Paul Schrader, der u. a. die Drehbücher zu den Scorsese-Filmen „Taxi Driver“ (1976) und „Die letzte Versuchung Christi“ (1988) schrieb und selbst Filme drehte wie „Hardcore“ (1979) und „Der Gejagte“ (1998), widmet sich in seinem neuen Film dem Leben des Radiomoderators und Schauspielers Robert Crane, der durch die Comedy-Serie „Ein Käfig voller Narren“ („Hogan's Heroes“), deren 168 Episoden zwischen 1965 und 1971 ausgestrahlt wurden, in der Rolle des Hogan bekannt wurde. Zuvor hatte er an einer in den 50er und 60er Jahren beliebten Sitcom, der „Donna Reed Show“ (1958 bis 1966), zwischen 1963 und 1965 mitgewirkt. Später spielte er die Hauptrolle in dem völlig missglückten Disney-Film „Superdad“ („Papa ist der Größte“, 1974). Crane wurde 1978 in einem Hotelzimmer in Scottsdale, Arizona, ermordet. Der Mörder konnte nie gefasst werden. Bei den Ermittlungen der örtlichen Polizei wurden Fehler gemacht, und als man Jahre später Cranes langjährigen Freund John Carpenter verdächtigte und anklagte, musste der aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden.
Bob Crane (Greg Kinnear), verheiratet mit Anne (Rita Wilson), zwei Kinder, führt bis in die 60er Jahre das, was man wohl ein normales Leben nennt. Crane ist DJ bei KNX Radio in Los Angeles. Sein Manager Lenny (Ron Leibman) verschafft ihm 1963 eine Rolle in der „Donna Reed Show“. Dann allerdings bekommt er ein Angebot, das er nicht ausschlagen kann, obwohl ihm die Idee zu einer Serie mit dem Titel „Hogan’s Heroes“ zunächst abstrus vorkommt und er befürchtet, sie könne seiner Karriere schaden. Er soll einen Kriegsgefangenen in einem deutschen Strafgefangenenlager im zweiten Weltkrieg spielen. Nur, die Serie ist nicht als Drama oder Tragödie, sondern als Komödie angelegt. Man will die Nazis durch den Kakao ziehen. Nach anfänglichen Zweifeln stimmt Bob zu; die Serie wird zu einem Riesenerfolg. Während der Dreharbeiten lernt er John Carpenter (Willem Dafoe) kennen, der für eine Firma die ersten Videorecorder entwickelt und stolz darauf ist, an Elvis Presley und den Präsidenten die ersten Exemplare verkauft zu haben. Ob das stimmt, weiß nur Carpenter. Er nimmt Bob eines Tages in ein Striptease-Lokal mit, und ab diesem Tag verändert sich scheinbar alles in Cranes Leben. Denn John ist kein Mann, der es bei solchen Barbesuchen belässt. Schneller als Bob mitdenken kann, findet er sich in einer Welt wieder, in der es nur noch um eines geht: Sex, den Kick durch Sex. Anne findet in der Garage entsprechende Magazine, doch Bob erklärt ihr lapidar, er sei lediglich an Fotografie interessiert. Daran ist noch nicht einmal alles gelogen. Denn Carpenter verbindet seine eigene und Bobs sich entwickelnde Sexsucht mit der weiter Video-Technik. Die Kamera läuft, wenn die beiden im wahrsten Sinn des Wortes Frauen aufreißen, sei es auf irgendwelchen Parties, sei es in Bars oder sonst wo.
Für eine gewisse Zeit führt Crane ein Doppelleben: in der Öffentlichkeit ist er weiterhin der nette Kerl von nebenan, der durch seine Rolle als Hogan Sympathien erwirbt, eine Musterehe führt und brav zur Kirche geht. Im verborgenen zählt für Bob jedoch bald nur noch eines. „Ein Tag ohne Sex ist ein vergeudeter Tag.“ Anne trennt sich von ihrem Mann, bekommt das Haus und das Sorgerecht für die beiden Kinder. Bob verliebt sich am Set in die junge Schauspielerin Pat (Maria Bello), der er erzählt, er wünsche sich eine Frau, die ihn versteht. Pat weiß von den Ausschweifungen Bobs – und erklärt ihm, sie akzeptiere sein Leben. Die beiden heiraten, und bald ist Bob zum dritten Mal Vater. Nachdem „Hogan’s Heroes“ 1971 ausgelaufen ist, sitzt Bob auf dem Trockenen. Lenny, der des öfteren versucht, Bob davon zu überzeugen, dass er sein Leben ändern müsse, hat alle Mühe, Crane Engagements zu verschaffen. Was bleibt, sind die Hauptrolle in dem erfolglosen Disney-Film „Superdad“ (1974) und eine Tournee mit einem Theaterstück quer durch die Staaten. Immer stärker wird Bobs Leben von Sexsucht und der Abhängigkeit von Carpenter bestimmt. Weder das Gespräch mit einem Priester (Don McManus), noch die Versuche, sich von Carpenter zu trennen, mit dem es teilweise zu heftigen Auseinandersetzungen kommt, können Crane aus dieser Eigendynamik, die sein Leben inzwischen bestimmt, befreien ...
„Auto Focus“ gehört in die Reihe jener amerikanischer Filme, die sich in letzter Zeit mit Mentalität, Atmosphäre und Zeitgeist der 60er Jahre beschäftigen. Zu nennen wären hier etwa George Clooneys „Confessions of a Dangerous Mind“ (2002), Todd Haynes „Far From Heaven“ (2002) oder Steven Spielbergs „Catch Me If You Can“ (2002). Schrader zaubert in „Auto Focus“ in Design und Inszenierung den Übergang von einer Zeit des konservativen Amerika der 50er Jahre über die kurze Flower-Power-Zeit Ende der 60er Jahre bis in die restaurativen Anfänge der Vor-Reagan-Zeit Mitte/Ende der 70 er Jahre. Doch obwohl sich in dieser Zeit viel ändert, ändert sich andererseits auch herzlich wenig – zumindest für Bob Crane. Crane ist kein Mann von Format, wenn man darunter versteht: einer der nachdenkt, einer der ein Ziel vor Augen hat, eine Perspektive, Pläne, einer der sich sorgt, auch um andere. Nichts dergleichen ist Bob Crane. Er lebt in den Tag, und ein Tag sieht aus wie der andere. Sein Verhältnis zu Carpenter ist geradezu faustisch. Mephisto verspricht Crane, alle für ihn bisher unerreichbaren Früchte ernten zu können, wenn er sich ihm verkauft. Carpenter braucht Crane, bis Crane Carpenter nicht mehr abschütteln kann, selbst wenn er es wollte.
Die Methode hat Methode: Als Crane in einer Bar sitzt und einmal mehr ein potentielles weibliches Opfer im Visier hat, bittet er den Barkeeper, das Fernsehen auf Kanal 9 zu stellen, wo gerade eine Folge von „Hogan’s Heroes“ wiederholt wird. Als die hübsche Frau sieht, wer da an der Bar sitzt, ist sie bereits verloren. In einer anderen Szene sitzen Mephisto und Faust vor einem Videotape, auf dem eine ihrer Orgien aufgezeichnet ist. Crane erregt dies, er greift sich in die Hose, und dann sieht man beide, sich über irgend etwas unterhaltend, onanieren. Diese mechanische Obsession, dieser Zwang zum Sex, der nichts mit Erotik oder Leidenschaft zu tun hat, scheint sich bei beiden unabhängig von den sozialen Veränderungen ihrer Zeit entwickelt zu haben. Zwei Dinge allerdings beeinflussen die Entwicklung Cranes enorm. Zum einen Carpenters Videotechnik. Es geht nicht nur um Sex und die Sucht danach, es geht auch um deren Visualisierung. Die Videotechnik ermöglicht diese Visualisierung des eigenen, besessenen Egos und der egozentrischen Lebensweise auf einer höheren Stufe. Statt Fotos, also fixierter Ausschnitte, ist die Rekonstruktion ganzer Abläufe möglich. Die Mechanik der Sucht erhält ein Spiegelbild, die Möglichkeit der exakten Wiederholung, ja, darüber hinaus der nachträglichen Veränderung der Abläufe durch Schnitte. Bob schneidet sich die Orgien zurecht. Er optimiert seine Promiskuität und seine hedonistische Lebensweise. Der Genuss, die Sinnenlust sind getrennt von der Subjektivität.
Frauen sind dieser objektivierten Welt nichts anderes als notwendige Gegenstände, Utensilien der Sucht. Selbst Pat, die der Flower-Power-Generation angehört und überzeugt davon war, Bobs Ausschweifungen akzeptieren zu können, muss dies mit aller damit verbundenen Bitterkeit erkennen, erleidet das gleiche Schicksal wie Anne, und trennt sich von Crane. Crane ist als Mensch eine Tragödie. Allerdings verzichtet Schrader darauf, ihn zu verurteilen, überhaupt ihn zu beurteilen. Und Greg Kinnear spielt Crane in einer Weise, die es dem Betrachter schwer macht, ihn zu verdammen oder moralisch zu katalogisieren. Crane ist aber auch personifizierter Ausdruck einer Zeit, in der ein extremer Hedonismus für einen gewissen Zeitraum Platz greifen sollte anstelle der verkrusteten, obsoleten Strukturen der Vergangenheit. Kein anderer als Pier Paolo Pasolini hat dies – verhaftet in dieser Zeit und in extremer Deutlichkeit, Überspitzung und Übertreibung – in seinen berühmt-berüchtigten „Freibeuterschriften“ zum Ausdruck gebracht. In einem Artikel im „Corriere della Sera“ (!) vom 10.6.1974 geißelt er den „Zentralismus der Konsumgesellschaft“ u.a. mit folgenden Worten: „Der Zwang zum Konsum ist ein Zwang zum Gehorsam gegenüber einem unausgesprochenen Befehl. Jeder in Italien steht unter dem entwürdigenden Zwang, so zu sein, wie die anderen: im Konsumieren, im Glücklichsein, im Freisein; denn das ist der Befehl, den er unbewusst empfangen hat und dem er gehorchen 'muss', will er sich nicht als Außenseiter fühlen. Nie zuvor war das Anderssein ein so schweres Vergehen wie in unserer Zeit der Toleranz. Denn die Gleichheit ist hier nicht erkämpft worden, sie ist eine 'falsche', eine geschenkte Gleichheit.“ [1] Pasolinis Polemik richtet sich nicht gegen das, was im engeren Sinn als Konsumgesellschaft bezeichnet wird. Er polemisiert gegen eine ohne ausdrücklichen Befehl verordnete Liberalität von oben, die in der damaligen Zeit, und auch oft noch heute, als erkämpfte Liberalität eingestuft wird – nach dem Motto: Du musst frei sein, Du musst konsumieren, Du musst lange Haare tragen, kurz: Du musst Dich hedonistisch verhalten, um nicht als Außenseiter zu gelten.
Man mag einwenden, dass diese Polemik übertreibt. Aber es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Meinung, ab Mitte der 60er Jahre seien alle Freiheiten letztlich von starken Minderheiten erkämpft worden, sich teilweise nur auf Äußerlichkeiten stützt (und deshalb nur halb wahr, also auch Mythos ist), während die Umwälzungen innerhalb der industriellen Struktur der westlichen Gesellschaften, die zur Auflösung überkommener Strukturen führten und führen mussten, oft ignoriert werden. Emanzipation war zum einen Ergebnis der Bemühungen der Frauenbewegung. Aber andererseits brauchten die westlichen Gesellschaften Frauen nicht nur, aber vor allem auf dem Arbeitsmarkt. Das ist die andere, nicht zu vernachlässigende Seite. Wenn die Marktwirtschaft ernst mit sich selbst sein wollte, mussten alle Produkte potentiell allen zur Verfügung stehen. Die allseitige Verfügbarkeit der Produkte aber korrespondiert mit der Bestimmung des Individuums, allseitig sich diesem neuen Zwang zu unterwerfen.
Insofern, und in aller Knappheit, in der dies hier erläutert werden kann, ist Bob Crane ein Flaggschiff, wenn auch sicher ein extremes, seiner Zeit. Die Zuspitzung seines Lebensinhalts auf sexuellen Hedonismus trägt den Schein absoluter Freiheit. Wie der Film Paul Schraders und insbesondere das Spiel der beiden Hauptdarsteller Kinnear und Dafoe deutlich machen, ist es Zwang, der verinnerlicht wird und dessen Folge zwanghaftes Verhalten bedeutet. „Auto Focus“ rekurriert auf die Möglichkeit der Selbst-Visualisierung dieses Zwangs in bewegten Bildern des eigenen Hedonismus. Diese Möglichkeit schafft Crane die zusätzliche Illusion einer grenzenlosen Freiheit; er kann sich nun seine Bilder selbst zusammenschneiden, sozusagen seine Biografie zimmern. Man denke unter diesem Gesichtspunkt nochmals an seinen Satz: „Ein Tag ohne Sex ist ein vergeudeter Tag.“ Die eigenen Zweifel an dieser Ausrichtung seines Lebens kommen für Crane zu spät. „Auto Focus“ ist der Versuch einer auch immer leicht ironischen Sicht auf eine Zeit der Umbrüche, die Schrader meisterlich geglückt ist. Der Film ähnelt in vielem Scorseses Blick auf einen einzelnen in „Taxi Driver“, Drehbuch: Paul Schrader, ohne eine Fortführung oder Kopie zu sein, zumal in beiden Filmen ganz unterschiedliche Geschichten erzählt werden.
[1] Pier Paolo Pasolini: Studie über die anthropologische Revolution in Italien, in: Corriere della Sera vom 10.6.1974, abgedruckt in: ders., Freibeuterschriften. Aufsätze und Polemiken über die Zerstörung des einzelnen durch die Konsumgesellschaft. München 1993 (Originalausgabe: Mailand 1975), S.40-48, hier: S. 46.