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    Visitor Q
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Visitor Q
    Von Björn Becher

    Unter dem Titel „Love Cinema“ entstand zwischen 2000 und 2001 eine sechsteilige Reihe, zu der verschiedene japanische Regisseure Filme beisteuerten. Die Vorgaben waren knapp: Der Film sollte von der „reinen Liebe“ handeln und mit einer handelsüblichen Digitalkamera gedreht werden. Das Budget war mit weniger als einer halben Million Euro für alle Filme zusammen (!) knapp bemessen. Egal was man von einem Film zum Thema „reine Liebe“ auch erwartet, wenn mit Takashi Miike (Audition, The Call, Sukiyaki Western Django, Crows Zero) „ein Regisseur zwischen Auteur und Trash-Zeremonienmeister“ (so einst die TAZ) das Zepter schwingt, dann kommt mit Sicherheit etwas völlig anderes dabei heraus: Und genau das ist Miikes 70.000 Dollar günstiger „Visitor Q“ auf jeden Fall: völlig anders!

    Eine ganz und gar typische japanische Familie: Die Tochter (Fujiko) ist bereits ausgezogen. Statt für die Schule zu lernen, geht sie nun anschaffen. Ihr neuer Kunde ist ihr Vater (Kenichi Endo), den sie nach dem Sex als „Schnellspritzer“ beschimpft. Der Sohn (Jun Mutô) wird in der Schule gehänselt. Seine daraus resultierenden Aggressionen lässt er an seiner Mutter (Shungiku Uchida) aus, die er täglich brutal verprügelt. Die Mutter wiederrum sucht ihr Heil in harten Drogen. Eines Tages kommt ein Fremder (Kazushi Watanabe) ins Haus. Er hat den Vater bereits zwei Mal hinterrücks mit einem Stein zusammengeschlagen und macht sich nun in der Wohnung breit. Seine Anwesenheit und sein Einfluss treiben die Perversionen auf die Spitze. Doch damit führt er die gespaltene Familie langsam wieder zusammen…

    Schon wenn Miike in der ersten Szene sehr ausführlich den Sex zwischen Vater und Tochter schildert und dabei nur die härtesten Szenen, wie etwa der eindringende Penis, digital verwaschen sind, werden die ersten Zuschauer wegsehen. Spätestens wenn dann der geheimnisvolle Besucher die Milch aus den Brüsten der Mutter spritzen lässt, oder der Vater Geschlechtsverkehr mit einem zuvor getöteten Mädchen ausübt, wobei er am Ende mit seinem Penis in der Vagina stecken bleibt und beim besten Willen nicht mehr herauskommt, wird sich ein Großteil des Publikums abgewendet und den Film als kranke Ausgeburt eines perversen Gehirns abgestempelt haben. Man kann jeden ein Stück weit verstehen, der die Sichtung des Films aufgrund solcher Szenen abbricht. Leider bleibt diesen Zuschauern das wahre Gesicht von „Visitor Q“ verborgen.

    Miike nutzt die Perversionen nicht nur, um zu schockieren, sondern auch für einen gesellschaftskritischen Blick auf die Institution Familie und deren Zersetzung. Die Perversitäten funktionieren allesamt auch als Metaphern. Die Familie in „Visitor Q“ ist gnadenlos überzeichnet, sie hat sich auseinandergelebt, die gegenseitige Notiznahme ist auf ein Minimum beschränkt. Der Vater beachtet seine Tochter nur noch als Sexobjekt und erkennt die Probleme von Frau und Sohn erst, als er die Chance bekommt, mit einem Dokumentarfilm über sein eigenes Familienleben endlich der Erfolglosigkeit als Fernsehjournalist zu entfliehen. Die Familie in „Visitor Q“ ist im Endeffekt das extrem übersteigerte Ebenbild vieler japanischer Familien. Dabei wird den Eltern klar der Schwarze Peter zugeschoben. Erst wenn Vater und Mutter durch einen Mord wieder zu einer Einheit werden, können sie auch die Familie wieder zusammen bringen. Miike, dem häufig Frauenverachtung vorgeworfen wird, stilisiert hier gerade die Mutter zum heimlichen Oberhaupt der Familie.

    Daneben hat „Visitor Q“ auch eine medienkritische Seite. Allein die Tatsache, dass der Vater beschließt, über seine kaputte Familie eine Dokumentation zu drehen, ist in höchstem Maße grotesk - oder eben auch zeitgemäß, wenn man sich die Osbournes und Co. zu Gemüte führt. Auch der kurz geschilderte Hintergrund des Vaters ist Medienschelte pur: Bei einer früheren Dokumentation wurde er, als er für eine Reportage unterwegs war, von mehreren Jugendlichen vergewaltigt. Das Ganze ist aufgezeichnet und ausgestrahlt worden und führte so zu dem beruflichen Abstieg, dem er mit seiner neuen Dokumentation nun entgegenwirken will.

    Vor diesem gesellschafts- und medienkritischen Background bietet „Visitor Q“ überraschenderweise auch viel Komisches. Dabei dürfte aber nach den vorangegangen Absätzen klar sein, dass dies keine Komik ist, die der breiten Masse liegt, sondern eine über die man halt schon schmunzeln können muss. Der Film wird neben seinen ständigen Tabubrüchen, die – anders als etwa bei Francois Ozons ganz ähnlich gelagertem Sitcom – nie zum puren Selbstzweck verkommen, vor allem von den Schauspielern getragen. Kazushi Watanabes (Kain No Matsuei) Rolle ist eine Hommage an seinen Debütfilm 19, von dem Miike überaus angetan war. Der Miike-Stammdarsteller Kenichi Endo (Like A Dragon, Krieg der Dämonen) und Shungiku Uchida, eine Mangakünstlerin, überzeugen in ihren nicht nur körperlich anspruchsvollen Rollen. Die Kameraarbeit von Hideo Yamamota (Hana-bi, Audition, „Ichi The Killer“) ist das Prunkstück des Films. Sie verleiht dem Geschehen einen dokumentarischen Touch, so dass der Zuschauer phasenweise den Eindruck bekommt, er beobachte nicht, wie der Vater den Dokumentarfilm dreht, sondern sehe diesen selbst. In anderen Szenen wird der Zuschauer in die Position eines heimlichen Beobachters gedrängt, etwa wenn die Kamera aus dem Nachbarzimmer verstohlen die Familie beobachtet.

    Das Publikum ist bei „Visitor Q“ nicht nur Beobachter, sondern auch Teil des Geschehens. Die Protagonisten sprechen teilweise direkt in die Kamera. Gleich zu Beginn wird der Zuschauer zudem mehrfach über Zwischentitel à la „Hast du es jemals mit deinem Vater getan?“ und „Hast du jemals deine Mutter geschlagen?“ direkt angesprochen.

    Fazit: Regie-Tausendsassa (bis zu fünf Filme in einem Jahr, aktiv in zahlreichen Genres) Takashi Miike gelang mit „Visitor Q” ein extrem verstörendes Werk, das man auf den ersten Blick für kranken, bisweilen pornografischen, viel zu brutalen Trash halten könnte, das sich aber, wenn man sich nicht von den Tabubrüchen abstoßen lässt, als subversives Meisterstück offenbart.

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