Acht Jahre lang wollte niemand das Drehbuch von Milo Addica und Will Rokos verfilmen. Hollywood weigerte sich. Billy Bob Thornton fand den Schweizer Regisseur Marc Forster und herausgekommen ist ein Film, für den das Prädikat „äußerst sehenswert“ nur unzureichend ausdrückt, was den Kinobesucher erwartet. Die hiesige Filmkritik scharwenzelt mal wieder um die eigenen Vorurteile herum. So schreibt der „Filmdienst“ u.a.: „Kann sich ein Mensch, der sein Leben lang die Verachtung einer minderwertigen Rasse verinnerlichte, davon jemals befreien? Und kann eine farbige Frau Liebe für einen Weißen empfinden, der bis vor kurzem auf Menschen ihrer Hautfarbe sogar die Waffe richtete?“ Einmal Redneck (1), immer Redneck. Anders herum die „taz“: Forster mache „vieles richtig, aber letztlich geben ihm der konstruiert wirkende Plot und die teils wenig differenzierte Figurenzeichnung (Rassist ist man, wenn der Vater Rassist war und man das Pech hatte, in den Südstaaten geboren zu sein) nur einen begrenzten Spielraum“. Grausam! Was haben diese Leute gesehen? Ich will es dabei belassen. Denn „Monster’s Ball“ ist weniger ein Film über den Südstaaten-Rassismus und die Todesstrafe, sondern eher schlicht und – im wahrsten Sinne – ergreifend eine unglaublich zugleich schöne und bittere Erzählung (2).
Im Staatsgefängnis von Georgia wartet Lawrence Musgrove (Sean Combs) auf seine Hinrichtung. Seit elf Jahren sitzt er wegen Mordes ein. Seine Frau Leticia (Halle Berry) hat sich entschieden, an der Hinrichtung nicht teilzunehmen. Sie besucht Musgrove mit dem gemeinsamen, übergewichtigen Sohn Tyrell (Coronji Calhoun) am Vortag, damit sich Sohn und Vater voneinander verabschieden können. Für den 12-jährigen Tyrell war sein bisheriges Leben eine Hölle. Er frisst den Kummer in sich hinein. Er kann nicht verstehen, dass er ihn nie wieder sehen wird. Sein Vater hinterlässt ihm etliche Zeichnungen aus den vergangenen Jahren im Gefängnis und sagt zu Tyrell: „Ich bin ein schlechter Mensch. Du bist das Beste von mir.“ Leticia hat sich von Lawrence innerlich längst abgewandt, in tiefer Enttäuschung, ist verbittert, schlägt ihren Sohn, weil Tyrell den Griff zur Schokolade nicht lassen kann, erstickt ihre Verbitterung im Alkohol. Im Todestrakt des Gefängnisses arbeitet Hank Grotowski (Billy Bob Thornton) als Wärter, der an Hinrichtungen auf dem elektrischen Stuhl teilnimmt. Sein Vater Buck (Peter Boyle) war Gefängniswärter und sein Sohn Sonny (Heath Ledger) ist ebenfalls Wärter. Buck ist zeit seines Lebens Rassist gewesen. Hank ebenfalls. Sonny ist da schon anders, befreundet mit den beiden Söhnen des schwarzen Nachbarn Ryrus Cooper (Mos Def), der eine Autowerkstatt betreibt. Als die beiden Jungen Sonny besuchen wollen, vertreibt Hank sie auf Anweisung von Buck vom Grundstück und schießt in die Luft, um sie ein für allemal fern zu halten. Am Vortag der Hinrichtung versuchen Hank und vor allem auch Sonny, Musgrove die letzten Stunden etwas zu erleichtern. „Monster’s Ball“ – das ist die „Abschiedsparty“, die den Todgeweihten am Vortag ihres Todes zuteil wird. Musgrove bekommt Essen, darf noch einmal zeichnen – Portraits von Hank und Sonny. Ein letztes Telefonat mit Tyrell allerdings hat die Gefängnisleitung verboten. Dann ist es soweit. Hank, Sonny und die anderen Wärter führen Musgrove zum elektrischen Stuhl. Auf dem Weg dorthin wird Sonny schlecht; er muss sich übergeben. Hank ist außer sich, beschimpft seinen Sohn, geht auf ihn los, er sei ein Schwächling.
Musgrove wird festgeschnallt, die Augen werden ihm verbunden, die Zeugen nehmen auf ihren Sitzen Platz. Ein Wärter hält ihm ein Mikrofon vor den Mund. Musgroves letzte Worte: „Drückt auf den Knopf.“ Der Strom wird eingeschaltet. Einmal. Zweimal. Musgroves Körper vibriert, zittert verkrampft. Rauch. Tod. Hank und Sonny sind wieder zu Hause. Wieder wirft Hank seinem Sohn vor, er sei schwach. Sonny zieht eine Waffe. Er richtet sie auf seinen Vater und fragt ihn, ob er ihn nicht schon immer gehasst habe. Hank bejaht. „Und ich habe dich immer geliebt“, sind Sonnys letzte Worte, bevor er sich erschießt. Hank kündigt seinen Job im Gefängnis. Er kauft sich eine in der Nähe gelegene Tankstelle. Durch Zufall lernt er Leticia kennen, die als Kellnerin seit kurzem in dem Restaurant arbeitet, das Hank regelmäßig aufsucht. Als er eines Nachts auf dem Heimweg ist, sieht er, wie Leticia sich weinend über Tyrell beugt. Ein Autofahrer hat ihren Sohn angefahren. Hank kehrt um, legt Tyrell auf den Rücksitz. Tyrell stirbt im Krankenhaus. Als man Hank bittet, die verzweifelte Leticia nach Hause zu bringen, zögert er, tut es dann aber doch. Beide lernen sich kennen, kommen sich näher ...
Es ist schwierig, fast unmöglich, die Atmosphäre, die „Monster’s Ball“ erzeugt, verbreitet, wiederzugeben. Der Film ist über und über gefüllt mit den Bedingungen, Voraussetzungen, unausgesprochenen und nicht weiter erklärten Verhaltensweisen und Handlungen zweier Menschen und ihrer Umgebung, die sich, ja zufällig – was das auch immer heißen mag – treffen. Treffen in zweierlei Hinsicht. Es ist Zufall, dass sie sich kennen lernen, aber eine spezifische Art von Schicksal, dass sie sich treffen müssen. Sie wohnen im selben Ort und ihr Leben ist – ohne dass Leticia das bis kurz vor Schluss des Films weiß – miteinander verflochten. Der Film ist nicht mit Details oder inhaltlich überfrachtet oder über-konstruiert, im Gegenteil. Forster erzählt die Geschichte in einer unglaublichen Intensität. Besonders (aber nicht nur) der Anfang des Films ging mir, wie man sagt, an die Nieren. Man kann sich dieser Atmosphäre nicht entziehen, es sein denn, man verlässt das Kino. Die Hinrichtung von Lawrence und die Vorbereitungen dazu werden detailliert geschildert, ebenso die verzweifelte Situation seines Sohnes.
Forster erzählt nicht irgendeine Geschichte über Rassismus oder Rednecks und die „Überwindung“ dieser Haltung bei Hank. Wie Roger Ebert in seiner Filmkritik in der „Chicago Sun-Times“ schreibt, geht es eher darum, wie Hank seine Haltung gegenüber Schwarzen verliert „like a dead skin“, weil seine anderen Gefühle aufgrund dessen, was passiert – und das ist einiges –, sozusagen die Oberhand gewinnen. Er „überwindet“ den Rassismus nicht; der Rassismus wird für ihn schrecklich unwichtig, überflüssig, ja hinderlich. Hank weiß nicht, warum er es tut, aber er kümmert sich „plötzlich“ um Leticia – wohlwissend, dass Lawrence ihr Mann war. Sie weiß nur, dass Hank ebenfalls seinen Sohn verloren hat. Hank nennt nicht nur seine Tankstelle nacht Leticia; er lässt Sonnys Auto bei Ryrus reparieren, dessen Kinder er zuvor noch verjagt hatte, und schenkt es ihr, weil ihr eigener Wagen den Geist aufgegeben hat. Er quartiert seinen Vater, der Leticia zutiefst beleidigt hat, ins Altersheim aus, um sie dort wohnen zu lassen, weil ihre Wohnung zwangsgeräumt wird. Will er sein schlechtes Gewissen beruhigen? Wohl kaum. Man kann sogar bezweifeln, ob Hank zu einem schlechten Gewissen überhaupt „in der Lage ist“. Es geht Hank nicht um irgendeine Form von Wiedergutmachung angesichts der Hinrichtung von Lawrence. Er weiß genau, dass es dafür keinen Trost und keine Wiedergutmachung geben kann. Hank entdeckt in sich Gefühle, die ihm nach dem Tod von Sonny erst bewusst geworden sind. Er trifft auf eine Frau, die ebenfalls ihren Sohn verloren hat. Hank war kein guter Vater, Leticia keine gute Mutter. Hank trieb es mit derselben Prostituierten wie Sonny. Das war beider „Sexleben“. Leticia trieb es mit dem Alkohol und dem Hass auf ihren Sohn, der „nur“ Projektion ihrer eigenen Unfähigkeit war, mit dem Leben zurechtzukommen. Weder Hank, noch Leticia sind das, was man sympathische Menschen nennen würde. Aber Forster erreicht, dass man Mitleid mit ihnen hat, Mitgefühl entwickelt. Hank und Leticia schlafen miteinander, nicht aus Liebe, sondern weil sie es beide „brauchen“, nicht aus Zuneigung, weil beide es wünschen, sondern aus Not. Die in den USA um einige „kritische“ Minuten geschnittene erste Sex-Szene zwischen beiden ist in einer Art gefilmt, wie ich es nie gesehen habe. Die Kamera schwankt zwischen Nähe und Distanz zu den Handelnden, „versteckt“ sich, kommt wieder hervor, so als ob „sie“ nicht begreifen könne, was da geschieht. Sie schleicht um die beiden herum, nicht im Sinne voyeuristischer Absichten; das ist keine Hitchcock’sche Kamera! Sie will verstehen, was nicht leicht zu verstehen ist.
Leticia braucht Hank, weil sie, die bisher mit ihrem Leben nicht zurecht gekommen ist, nach dem Tod ihres Mannes und ihres Sohnes erst recht nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll. Und Hank braucht Leticia. Warum? Billy Bob Thornton spielt Hank in einer grandios zurückhaltenden, der Figur angemessen „reduzierten“ Art und findet in Halle Berry ein exzellentes Gegenüber. Auch die Nebenrollen – Heath Ledger, vor allem aber Peter Boyle und Sean Combs – sind hervorragend besetzt. Forster schlachtet seine Szenen nicht aus, auch die nicht, die dazu angetan wären: der Tod Sonnys, der Tod Tyrells, die Hinrichtung von Lawrence, die Annäherung zwischen Hank und Leticia – das alles böte genug Gelegenheiten, um Hollywood-Kino im besten oder schlechtesten Sinn zu inszenieren. Fehlanzeige. Forster psychologisiert nichts, erklärt nichts, es gibt kein Pathos, kein Melodrama, keine Romanze, nicht einmal Liebe. Aber „Monster’s Ball“ ist auch keine spiel-filmische Dokumentation. „Monster’s Ball“ ist im besten Sinn eine Erzählung. In „erzählen“ steckt das Wort zählen. Forster zählt auf, listet auf. Er-zählen aber heißt, das Aufgezählte in seinem verwobenen Zusammenhang zu schildern. Hierin liegt die einzigartige Stärke dieses Films. Insbesondere in der Schlussszene wird dies überdeutlich, als Leticia die Zeichnungen ihres Mannes von Hank und Sonny entdeckt. Der Film überlässt alles dem Betrachter, der auf Gedeih und Verderb dem Streifen ausgeliefert wird. Kein Happyend, aber doch ein Hauch von Hoffnung beendet diesen Film. Phantastisches Kino.
(Zuerst veröffentlicht bei CIAO)
(1) Bezeichnung für weiße Südstaaten-Rassisten.
(2) Zit. n. www.angelaufen.de