So viel mehr als nur eine Kleinkinder-Mod für "GTA 5"?!
Von Christoph PetersenWährend Donald Trump in seinem legendenumrankten Florida-Anwesen Mar-a-Lago vom Untergang der modernen Zivilisation träumt, gibt sich Harmony Korine ein paar Schritte weiter mit dem Untergang Hollywoods zufrieden. Hier gründete der Multimedia-Künstler, der 2012 mit „Spring Breakers“ seinen bisher größten Hit landete, im vergangenen Jahr seine treffend benannte Produktionsfirma EDGLRD. Aber statt der üblichen Gewerke, die man bei einem solchen Unternehmen gemeinhin erwarten würde, hat Korine hauptsächlich AI-Künstler*innen und Game-Designer*innen angeheuert, um seinen Traum von der Zukunft des Filmemachens zu verwirklichen.
Das Geld kommt zwar bislang hauptsächlich durch die Arbeit an Werbespots und Musikvideos rein, aber trotzdem wurde nur wenige Monate nach der Firmengründung bereits der erste Film fertiggestellt: „Aggro Dr1ft“ entpuppte sich bei seiner Weltpremiere beim Filmfest in Venedig als spielfilmlanger Musikvideoclip in Videospielästhetik, der mit seinem Gangsta-Gestus nicht bei allen gut ankam. Björn Becher stellte in der offiziellen FILMSTARTS-Kritik (2 Sterne) sogar die Frage, ob das überhaupt ein Film sei? Das Gute ist, dass wir uns diese Frage beim Nachfolger „Baby Invasion“ gar nicht mehr stellen müssen. Schließlich blendet Harmony Korine nach gut 20 Minuten dick und fett ein: „This Is Not A Movie“
Aber wenn es kein Film ist, was ist es dann? Los geht’s jedenfalls mit einem vermeintlich authentischen Interview einer Spieleprogrammiererin mit VR-Brille, die davon berichtet, wie ihr halbfertiges Game „Baby Invasion“ vor einigen Jahren ins Darknet geleakt ist. Die ursprüngliche Idee war, dass das Bewusstsein der Spielenden so mit der Spielwelt verschmilzt, dass man die Welt des Online-Games als die Realität wahrnimmt. Aber nun ist es genau andersherum gekommen: Die Spielenden agieren in der realen Welt, und alles sieht aus wie ein Spiel, das dann vor Millionen von Zuschauenden im Netz gestreamt wird.
Das Ziel des Spiels: Die Anwesen reicher Leute überfallen, so viel Vermögen wie möglich erbeuten – und jeden, der dein Gesicht gesehen hat, eliminieren. Und wo bleiben die Babys aus dem Titel? Weil natürlich niemand der Teilnehmenden identifiziert werden will, sorgt eine AI dafür, dass die Antlitze aller Beteiligten im Live-Stream durch lachende Babygesichter ausgetauscht werden. Da laufen also ein Haufen GTA-artiger Gestalten mit Maschinengewehren rum, schlitzen ihren Opfern die Kehle durch – aber haben dabei das Gesicht eines unschuldigen Neugeborenen (wie die Sonne bei den Teletubbies, die im wahren Leben natürlich längst eine junge Frau ist und so aussieht).
In der ersten Hälfte des Films wird ein Überfall aus der Egoperspektive gezeigt. Auf der linken Seite rast die ganze Zeit der Live-Chat des Streams durch. Übrigens in allerlei Sprachen, viel Russisch und Chinesisch ist dabei, „Baby Invasion“ ist schließlich ein globales Online-Phänomen. Aber wahrscheinlich müsste man den Film mindestens zwei Mal sehen, um mehr als ein paar der Kommentare zwischendurch aufzuschnappen. Schließlich ist man hauptsächlich auf die „Counterstrike“-artigen Bilder konzentriert – wobei die „eigene“ Spielfigur, aus deren Perspektive wir das Geschehen verfolgen, mehr mit dem Essen von Wassermelonen als der Suche nach Beute beschäftigt zu sein scheint. Der Babygesicht-Filter ist dabei ein verstörend-abstrahierender Effekt, der sich auch über die Laufzeit von 80 Minuten niemals abnutzt.
Ein Film, der aussieht wie ein Game, das aussieht wie ein Live-Stream – und am Ende funktioniert es vor allem als Musikvideo für Elektro-Genie Burial, dessen Track – nicht unpassend – vom Abstieg in einen Kaninchenbau handelt. Und Harmony Korine hat natürlich genügend Humor, um immer wieder tatsächlich ein süßes Langohr durchs Bild hüpfen zu lassen. In der zweiten Hälfte ändert sich das Layout des Streams und erinnert fortan eher an „Five Nights At Freddy’s“. Statt aus der Egoperspektive verfolgen wir das Herausfoltern des Save-Codes nun aus verschiedenen Überwachungskameras, wobei es im Game offensichtlich darum geht, gewisse „Anomalien“ zu entdecken und zu melden. Aber nicht nur die Zahl der Videobilder nehmen zu, es ploppen auch immer mehr Memes und Spammeldungen (ja, der nigerianische Prinz kommt auch zu seinem Recht) im Bild auf.
Harmony Korine ist auf dem besten Weg zum absoluten multimedialen Overkill, so viele Game-Looks und Verfremdungseffekte mischt er in „Baby Invasion“. Auf eine Story muss dabei niemand hoffen: Zwar gibt es hin und wieder Sprechblasen-Einblendungen wie einem JRPG (japanische Rollenspiele), was als Nächstes zu tun sei. Aber gesprochen wird ebenso wenig wie eine Waffe abgefeuert. Meistens wandern die Protagonisten mit ihren Babygesichtern sogar einfach nur offenbar ziellos durch die Luxusanwesen.
Aber auch ohne jeglichen Plot wird man im selben Moment trotzdem vollkommen überfordert, weil man all den verschiedenen Elementen auf der Leinwand (geschweige denn in der Musik) natürlich nicht ansatzweise gleichzeitig folgen kann. Zugleich wird man von der sicherlich nicht völlig von sich zu weisenden Eintönigkeit aber auch ein Stück weit eingelullt. Wie bei einem guten Rave sollte man sich vermutlich (mit pharmazeutischer Unterstützung oder ohne) einfach nur möglichst tief in den Film hineinfallen lassen, um ihn bestmöglich genießen zu können.
Natürlich ist das absolut nullkommagarnicht massentauglich, Harmony Korines Traum vom Sturz Hollywoods liegt also weiterhin in weiter Ferne. Aber wenn man darauf einsteigt, wie der Autor dieser Kritik, dann ist das schon ein saucooles Experiment – und so kommen dann 4 Sterne und dieses Fazit zustande: Harmony Korine macht genau da weiter, wo er mit „Aggro Dr1ft“ aufgehört hat. „Baby Invasion“ ist die multimedial-experimentelle Edgelord-Version eines filmgewordenen Raves. (Wir empfehlen natürlich keine illegalen Drogen, der Regisseur selbst hätte aber sicherlich nichts dagegen, wenn man vor dem Kinobesuch noch schnell an einem LSD-Plättchen nuckelt).
Oder man steigt nicht darauf ein, so wie mein Kollege Björn, und dann könnte man sein Fazit zu „Aggro Dr1ft“ auch eins zu eins unter diesen Text packen: Das wirkt wie ein in Videospiel-Optik gehaltenes Intro zu einem super-stylischen Musikvideo – nur dass es hier eben nicht nur wenige Sekunden, sondern 80 Minuten lang so weitergeht. Das ist durchaus faszinierend, aber auch unglaublich anstrengend.
Wir haben „Baby Invasion“ auf dem Filmfest Venedig 2024 gesehen.