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    The Assessment
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    The Assessment

    Das ultimative Prüfungs-Cringe

    Von Christoph Petersen

    Natürlich bringen Frauen in der Zukunft ihre Babys nicht mehr selbst zur Welt. Aber das macht die Sache auch nicht unbedingt leichter. Stattdessen müssen potenzielle Eltern erst einmal ein Auswahlverfahren durchstehen, gegen das selbst die krassesten Assessment-Center für die begehrtesten CEO-Jobs wie ein Kindergeburtstag wirken. Aber die Ressourcen sind nach der Klimakatastrophe nun mal knapp – und da muss eben knallhart ausgesiebt werden, wer Nachwuchs bekommen darf und wer nicht. Also sind die Pflanzenforscherin Mia (Elizabeth Olsen) und der VR-Designer Aaryan (Himesh Patel) regelrecht erwartungsfroh, als zu Beginn von Fleur Fortunés „The Assessment“ die Eltern-Prüferin Virginia an der Tür des abgeschiedenen, unter einer künstlichen Atmosphären-Kuppel gelegenen Hauses klingelt.

    Gespielt wird die staatlich entsandte Assessorin von Alicia Vikander, die mit „Ex Machina“ bereits beste Erfahrungen im Genre des dystopischen Kammerspiel-Mindfucks gesammelt hat. Und die Oscar-Gewinnerin (für „The Danish Girl“) stürzt sich im strengen Gouvernanten-Look ohne Netz und doppelten Boden in ihre undurchsichtige Rolle: Am Frühstückstisch benimmt sich Virginia plötzlich selbst wie ein Baby und bewirft ihre Gastgeber*innen mit Essen – und das bereits am zweiten von sieben geplanten Tagen. Da kann man sich ungefähr ausmalen, wie brachial die Testmethoden die Teilnehmenden im weiteren Verlauf noch an ihre Grenzen bringen werden. Selbst Blowjobs werden genauestens begutachtet, und irgendwann scheinen selbst Todesopfer nicht mehr außerhalb der Vorstellungskraft zu liegen.

    Capelight Pictures
    Zwischen der Prüferin (Alicia Vikander) und ihren Prüflingen entspinnt sich im Verlauf der Handlung ein zunehmend intensives Psycho-Duell!

    Die Idee eines (siebentägigen!) Vorstellungsgesprächs ist ja für sich schon cringe genug – aber in „The Assessment“ wird das alles noch mal konsequent auf die Spitze getrieben. Man sollte also schon eine gewisse Resistenz in Sachen Fremdscham mitbringen, um nicht ständig seinen Blick von der Leinwand abwenden zu müssen. Ganz besonders gilt das für ein extra anberaumtes Dinner mit Paaren (u. a. die für „Good Will Hunting“ oscarnominierte Minnie Driver), die bereits Eltern werden durften: Im Vergleich dazu ist selbst eure schlimmste Familienfeier mit besoffenen Onkeln und rassistischen Großvätern das reinste Zuckerschlecken. Und ständig fragt man sich, ob man in der jeweiligen Situation, etwa beim schlafraubenden Aufbau eines spontan angelieferten Plastikstangen-Iglu mit IKEA-Anleitung aus der Hölle, wohl ähnlich gut/schlecht reagiert hätte.

    Wobei gerade das mit dem „gut“ oder „schlecht“ ja die eigentlich spannende Frage ist: Wenn Aaryan mit Virginia schimpft, weil sie mit dem Essen um sich schmeißt, sammelt er damit dann Plus- oder Minuspunkte? Alicia Vikander lässt sich jedenfalls nichts anmerken – und so liegt es wohl ganz an der persönlichen Vorstellung einer guten Erziehung, ob man selbst das Paar nun durchfallen oder bestehen lassen würde. Das ist auch der zentrale Knackpunkt, aus dem „The Assessment“ die meiste Spannung zieht: Weder das Kinopublikum noch die Möchtegern-Eltern wissen, wie die titelgebende Prüfung eigentlich abzulaufen hat. Man kann sich also selbst in den verrücktesten Momenten nie ganz sicher sein, ob das jetzt alles noch dazugehört, ob Virginia nicht doch ihre ganz eigenen Ziele verfolgt oder ob sie womöglich einfach nur völlig den Verstand verloren hat?

    Am besten hätte der Film einfach 10 Minuten früher aufgehört

    Natürlich ist es durchaus ungemütlich, all die Ungewissheiten gemeinsam mit Mia und Aaryan aushalten zu müssen – aber gerade das ist die größte Stärke des Spielfilmdebüts der bislang vor allem als Musikvideo-Regisseurin (u.a. für Drake und Travis Scott) bekannten Fleur Fortuné. Aber statt es bei dem konzentrierten Prüfungs-Szenario zu belassen, wird der Blick in der finalen Viertelstunde auf die ganze Zukunftsgesellschaft ausgeweitet, um all die offenen Fragen doch noch zu klären. Keine Angst, da gibt es nicht plötzlich ein aus dem Hut gezaubertes Happy End oder etwas ähnlich Schlimmes. Aber insgesamt sind die nachgelieferten Antworten doch erstaunlich banal. Die Diskussionen nach dem Rollen des Abspanns wären deshalb sicherlich spannender und ergiebiger ausgefallen, wenn sich die Regisseurin getraut hätte, nicht jedes Geheimnis noch schnell auf den letzten paar Metern zu lüften.

    Fazit: Stilsicherer Sci-Fi-Mindfuck, der vor allem als psychologisches Cringe-Experiment ganz hervorragend funktioniert, gerade weil Alicia Vikander als absolut unberechenbare Eltern-Testerin wirklich alles gibt und so nicht nur ihre Prüflinge, sondern auch das Publikum auf eine harte Probe stellt. Nur der Epilog, der in den letzten zehn Minuten noch schnell alle offenen Fragen auflöst, hätte nun wirklich nicht notgetan.

    Wir haben „The Assessment“ beim Filmfest Hamburg 2024 gesehen.

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