Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
4,0
stark
Das Licht

Groß! Wahnsinn! Größenwahnsinnig?

Von Christoph Petersen

Babylon Berlin“ schön und gut, aber Tom Tykwer gehört ins Kino! Nach neunjähriger Leinwandabstinenz hat der Regisseur von „Lola rennt“, „Das Parfüm“ und „Cloud Atlas“ die lange Pause zwischen den Staffeln 4 und 5 seines Serien-Welthits genutzt, um ENDLICH wieder einen Kinofilm zu drehen. Aber keine Sorge, der Berlinale-Eröffnungsfilm „Das Licht“ ist alles andere als ein schnell hingehuschtes Nebenbei-Projekt, ganz im Gegenteil. Eher fühlt es sich an wie die Kulmination einer ohnehin schon großen und in den Augen vieler großartigen Karriere.

In epischen 162 Minuten verhandelt Tom Tykwer am Beispiel einer dysfunktionalen Familie und ihrer aus Syrien geflüchteten Haushälterin nicht weniger als den Zustand unserer Welt – Musical-Einlagen, VR-Abstecher, Katastrophen-Szenen und ein ganz zentraler Queen-Song inklusive. Selbst wenn an manchen Stellen womöglich weniger auch mal mehr gewesen wäre, ist das fast schon naturgewaltiges Filmemachen – und das nicht nur, weil es im Berlin des Films in wirklich jeder Szene wie aus Kübeln schüttet. Dabei hat das alles mit einem einzelnen kleinen Gedanken begonnen.

Die Familie Engels steht mal wieder im Regen, schließlich schüttet es in „Das Licht“ wirklich ununterbrochen, als würde die nächste Sintflut anstehen.  X-Verleih
Die Familie Engels steht mal wieder im Regen, schließlich schüttet es in „Das Licht“ wirklich ununterbrochen, als würde die nächste Sintflut anstehen.

Die Eheleute Engels wollen die Welt retten: Deshalb fährt Tim (Lars Eidinger) überall mit dem Fahrrad hin und arbeitet in einer hippen Berlin-Mitte-Agentur, die großen Unternehmen einen nachhaltigen Anstrich verpasst. Und deshalb setzt Milena (Nicolette Krebitz) Förderprojekte in Kenia um, bei denen Jugendliche ihre Traumata mit Theaterspielen zu überwinden versuchen. Zugleich bricht ihre eigene Familie zusehends auseinander: Während ihr E-Sportler-Sohn Jon (Julius Gause) sich in der VR-Welt seines Lieblingsspiels verliert, feiert seine aktivistische Zwillingsschwester Frieda (Elke Biesendorfer) ihre schlaflosen Wochenenden in Electro-Clubs durch.

Und der aus einer Affäre von Milena mit einem kenianischen Ingenieur stammende Dio (Elyas Eldridge) wird sowieso Woche für Woche hin und her geschoben, ohne dass er sich irgendwo wirklich zu Hause fühlen könnte. Aber dann stirbt die Haushälterin der Familie an einem Herzinfarkt – und liegt erst einmal eine ganze Zeit tot in der Küche herum. Als Ersatz tritt die aus Syrien geflüchtete Farrah (Tala Al-Deen) die Stelle an, die die tiefen Gräben zwischen den Familienmitgliedern nach und nach aufbricht. Dazu nutzt sie u. a. ein mysteriöses blinkendes Licht, dessen besondere Wirkung die Mitglieder der Familie Engels bald erfahren...

Aus einer Maus ein Mammutwerk machen

Am Ende war gar nichts Schlimmes los. Aber als seine Haushälterin eines Tages nicht erschien und auch nicht erreichbar war, machte sich der Filmemacher nicht nur Sorgen, ihm wurde auch klar, dass er so gut wie nichts über seine langjährige Angestellte wusste. Eigentlich ein passender Anlass für einen netten kleinen (Problem-)Film, der (mal wieder) die First World Problems der westlichen Welt offenlegt. Kennt man ja (zur Genüge). Aber Pustekuchen! Tom Tykwer macht aus einer Maus keinen Elefanten, sondern ein (über-)ambitioniertes Mammutwerk, in dem er vom Klimawandel über Entfremdung bis zu Flüchtlingsfragen direkt die ganzen großen Themen der Moderne anpackt. Dabei verhebt er sich wohl nur deshalb nicht, weil er bei den gewählten filmischen Mittel ebenfalls konsequent in die Vollen geht.

Trotz der stolzen Laufzeit von mehr als zweieinhalb Stunden ist da die meiste Zeit über richtig Druck drauf, der sich neben „Tron“-artigen VR-Abstechern und einer Marvel-tauglichen Flugsequenz über die Spree unter anderem in einer Reihe von Musical-Einlagen auf den Straßen Berlins entlädt. Eine zentrale Position nimmt dabei „Bohemian Rhapsody“ der Band Queen ein. Tykwer und seine Co-Produzenten mussten sich monatelang geduldig ins Zeug legen, um die (sicherlich nicht ganz billigen) Rechte an dem ikonischen Rocksong zu bekommen. Aber ohne ihn wäre der Film sicherlich nicht derselbe geworden – und es passt halt auch: Wo Freddie Mercury einst Ballade, Oper und Hardrock zu einer gleichermaßen pathetischen wie parodistischen Metapher über Schuld, Sühne und Erlösung verband, nutzt nun auch Tykwer die verschiedensten, nur scheinbar widersprüchlichen stilistischen Mittel für eine Großerzählung voller mysteriöser Symbolik.

Farrah (Tala Al-Deen) nutzt ein mysteriöses Licht, um den Menschen um sich herum zu helfen. Doch verfolgt sie mit ihrer Therapie womöglich auch eigene Interessen? X-Verleih
Farrah (Tala Al-Deen) nutzt ein mysteriöses Licht, um den Menschen um sich herum zu helfen. Doch verfolgt sie mit ihrer Therapie womöglich auch eigene Interessen?

Nothing really matters“ („nichts ist wirklich von Bedeutung“), lautet bekanntermaßen das in der nachdenklichen Coda von „Bohemian Rhapsody“ gezogene Fazit. Aber genau das trifft hier ganz sicher nicht zu: Tykwer schmeißt nämlich nicht einfach beliebig mit Symbolen um sich, stattdessen gibt es einen Twist, der das allermeiste erklärt, den aggressiv schüttenden Berliner Dauerregen inklusive. Aber der bloße Plot oder das mysteriöse Licht sind ohnehin nicht die Dinge, über die man nach dem Rollen des Abspanns noch groß nachdenken wird, dafür liefert „Das Licht“ viel zu viele andere spannende Diskussionsanstöße. Auch fügt sich nicht jeder dieser großen Einfälle nahtlos ins Gesamtbild, manche Sequenzen wirken eher wie für sich stehende visuelle Ideen. Aber „mehr Größenwahn wagen!“ scheint vor allem im oft braven deutschen Kino als erstrebenswertes Motto.

Fazit: In den neun (!) Jahren seit seinem letzten Kinofilm hat sich bei Tom Tykwer offensichtlich etwas angestaut, das nun in „Das Licht“ mit ganzer geballter Kraft auf die Leinwand drängt. Das Ergebnis ist derart kühn, draufgängerisch und thematisch wie cineastisch allumfassend, dass man sich hinterher ganz wunderbar darüber streiten kann, ob wirklich jeder Einfall zu 100 Prozent aufgeht – aber gerade deshalb ist „Das Licht“ ja so aufregendes, anregendes, pures Kino!

Wir haben „Das Licht“ im Rahmen der Berlinale 2025 gesehen, wo er als Eröffnungsfilm gezeigt wurde.

PS: Um dem immer mal wieder vorgebrachten „Vorurteil vom lahmen deutschen Film“ etwas entgegenzusetzen, hat sich die FILMSTARTS-Redaktion dazu entschieden, die Initiative „Deutsches Kino ist (doch) geil!“ zu starten: Jeden Monat wählen wir einen deutschen Film aus, der uns besonders gut gefallen, inspiriert oder fasziniert hat, um den Kinostart – unabhängig von seiner Größe – redaktionell wie einen Blockbuster zu begleiten (also mit einer Mehrzahl von Artikeln, einer eigenen Podcast-Episode und so weiter). „Das Licht“ ist der neueste Film, dem wir dieses Siegel verleihen.

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