Der King des Fake
Von Björn BecherIn seinem in Japan gedrehten Drama „Family Romance, LLC“ stellt der Kultfilmer Werner Herzog („Fitzcarraldo“) einen ungewöhnlichen Service-Betrieb ins Zentrum, bei dem sich Kund*innen ganz einfach Familienmitglieder oder Freund*innen mieten können. Nach und nach wird darin klar, welche Auswirkungen dieses Geschäft auf den Agenturbetreiber Yuichi hat, der als Teil seines Jobs auch selbst immer wieder in die verschiedensten Rollen schlüpfen muss. Am Ende befürchtet er sogar, dass nichts mehr in seinem Leben echt ist. Könnte es nicht sein, dass auch sein eigenes Umfeld und seine eigene Familie nur „gemietet“ sind?
Der Österreicher Bernhard Wenger schlägt mit seinem Langfilmdebüt „Peacock“ nun in eine ähnliche Kerbe: Sein Protagonist ist wegen seines Jobs, der ihn immer wieder in neue Persönlichkeiten zwingt, tatsächlich längst ein Fake geworden. Das Ergebnis ist eine (Kapitalismus-)Satire über den ständigen Druck, sich perfekt in der Öffentlichkeit präsentierten zu müssen. Gerade zu Beginn, wenn sogar ein Golfcart abgefackelt wird, nur um sich dann als Held aufspielen zu können, entwickelt das einiges an Biss und Witz. Aber weil der Film genau wie sein Anti-Held anschließend zu lange auf der Stelle tritt, erschöpft sich das Szenario schnell – und wird fortan allein von seinem grandios-faszinierenden Hauptdarsteller Albrecht Schuch („Berlin Alexanderplatz“) über die Ziellinie getragen.
Matthias (Albrecht Schuch) betreibt gemeinsam mit seinem besten Freund (Anton Noori) die Agentur My Companion, die Begleiter*innen für jeden Zweck anbietet. Ob kultivierter Freund für ein Gartenkonzert, erfolgreicher Sohn zum Herzeigen oder perfekter Vater mit Traumjob beim Berufe-Tag in der Schule – Matthias schlüpft mühelos in jede Rolle. Doch seine Freundin Sophia (Julia Franz Richter) erlebt zu Hause längst nicht mehr ihren Matthias, sondern nur noch das Chamäleon, zu dem er über die Zeit in seinem Job mutiert ist: Ihr Freund ist nur noch eine leere Hülle, die darauf wartet, mit einer neuen Rolle gefüllt zu werden.
Selbst als sie aus Provokation einen riesigen Hund anschafft, bringt er es nicht über sich, sein Veto einzulegen. Als er bei einem Streit sogar auf künstliche Tränen zurückgreift, um eine schnelle Versöhnung zu erreichen, zieht Sophia aus der gemeinsamen Wohnung aus. Allein in seinem kalten Luxusdomizil muss Matthias herausfinden, wer er wirklich ist. Die sich stetig steigernden Selbstzweifel beeinträchtigen bald auch seine berufliche Performance – mit zunehmend katastrophalen Konsequenzen für seine Kundschaft und ihn selbst…
Nicht einmal die simple Frage, ob er lieber weißen oder roten Wein trinken will, kann Matthias privat beantworten (was er übrigens eins-zu-eins mit dem von Jesse Plemons verkörperten Protagonisten aus der ersten Episode von Yorgos Lanthimos‘ „Kinds Of Kindness“ gemein hat). Erkundigungen nach seinem persönlichen Geschmack wehrt er ab, indem er stattdessen auswendig gelernte Phrasen über die Bedeutung von Kunst abspult. Was bei seinen beruflichen Ausflügen als Konzertbegleiter für Begeisterung sorgt, zündet bei Sophia natürlich überhaupt nicht. Man versteht direkt, warum sie genervt ist und schließlich auszieht. Da wir Matthias allerdings bereits als solche quasi-leere Hülle kennenlernen, fällt es schwer vorstellbar, dass dieses aalglatte Chamäleon jemals anders gewesen ist.
Wenn Matthias nach dem Auszug von Sophia nach und nach die Kontrolle verliert, konzentriert sich der Film eher auf episodische Erlebnisse als auf eine konsequente (Weiter-)Entwicklung der Figur. Es ist zwar absolut erfreulich, dass „Peacock“ nicht einfach die naheliegende Selbsterkenntnis-und-Erlösung-Geschichte erzählt. Aber wie sein Protagonist steckt auch der Film irgendwie fest. Was nicht heißt, dass die Einzelszenen nicht was hermachen würden: So nimmt Matthias zum Beispiel den überraschenden Auftrag einer Kundin (Maria Hofstätter) an, ihr als Streit-Sparringspartner zur Seite zu stehen, damit sie endlich lernt, sich gegen ihren dominanten Ehemann durchzusetzen. Hier macht er dann auch erstmals (kleine) Fehler bei der Arbeit, weshalb er wenig später den realen Gatten (Michael Gampe) an der Backe hat.
Der stalkende Schatten ermöglicht es Regisseur Wenger, das bereits zu Beginn von „Peacock“ begonnene Spiel mit Horrorbildern weiter zu vertiefen. Wenn Matthias sich verfolgt fühlt, wirkt seine sterile Bleibe noch bedrohlicher, als sie es ohnehin schon ist. Die strahlte schließlich bereits zuvor durch einen immer wieder ins Bild gerückten dunklen Gang und einen tropfenden Boiler etwas Unheimliches aus. Doch am Ende wabern diese Genreanleihen nur im Hintergrund. Sie werden aber nie so richtig Teil der kapitalismuskritischen Stoßrichtung der Satire. Die ist übrigens immer dann am besten, wenn der Film möglichst wenig subtil den schwarzen Humor auspackt: So etwa, wenn im TV vom Absturz einer Influencerin zu hören ist, die einen angeblichen Traumurlaub nur vorgetäuscht hat, dabei aber von ihren Nachbarn erwischt wurde.
Solche kleinen Einschübe unterstreichen zwar recht plakativ, aber doch wirkungsvoll den Punkt des Films. Ein wenig erinnern solche Momente an eine Light-Version der ätzenden Gesellschafts-Abrechnungen des zweifachen Goldene-Palme-Gewinners Ruben Östlund („Triangle Of Sadness“) – und das trifft besonders auch auf das Finale zu, wo man nicht mal mehr einen anständigen öffentlichen Nervenzusammenbruch haben kann, ohne dass es jemand als geniale Kunstperformance abfeiert. Und manchmal ist „Peacock“ sogar schreiend komisch: Als Matthias seine virtuelle Sprachassistenz um einen Gute-Laune-Song bittet, wählt die KI ausgerechnet den HandClap-Song von Fitz and the Tantrums aus – wobei die eh schon todtraurig-saukomische Situation durch die Klatsch-Steuerung der Zimmerlampen endgültig auf die Spitze getrieben wird.
Wie bei Herzog stellt sich auch hier zwischendrin die Frage, ob überhaupt noch was echt ist. Immer wieder begegnet Matthias einer charmanten Norwegerin (Theresa Frostad Eggesbø aus dem Netflix-Erfolg „Ragnarök“). Endlich scheint er mal wieder authentische Gefühle zu haben – doch nach einem eigentlich gelungenen One-Night-Stand hört er abrupt nichts mehr von ihr. Wurde sie womöglich ebenfalls nur angeheuert, um ihn aufzumuntern, will er zunehmend paranoid bei einer Konfrontation wissen. Für ihn ist das schließlich ein logischer Gedanke: Wenn du selbst täglich Fake-Charaktere kreierst, wie sehr kannst du dann noch darauf vertrauen, dass alles andere um dich herum noch echt ist? Doch auch dieser zwischenzeitige Zweifel wird rasch wieder verworfen und bleibt eine von vielen schrulligen Episoden in Matthias' beständiger Abwärtsspirale.
Fazit: Getragen von einem erneut beeindruckenden Albrecht Schuch bietet „Peacock“ zwar einige amüsante Szenen, doch aufgrund der episodischen Struktur und des Fehlens einer fesselnden Erzählung bleibt Bernhard Wengers ambitioniertes Kinodebüt letztlich hinter seinen Möglichkeiten zurück.
Wir haben „Peacock“ im Rahmen des Venedig Filmfestival 2024 gesehen.