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    Teorema - Geometrie der Liebe
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Teorema - Geometrie der Liebe
    Von Andreas R. Becker

    „Wie kann man sich dem Kino als Medium der Massenkultur widersetzen? Indem man

    aristokratisches Kino macht: unkonsumierbar. Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, dass das Kino, das ich mache, immer weniger ‚konsumierbar’ ist von denen, die man die ‚Massen’ nennt. [...] Ich versuche, eine Sprache zu schaffen, die den mittleren Konsumenten, den Mann von der Straße, in eine Krise versetzt.“ 1 – So Pasolini über sich selbst.

    Gerade mal 98 Minuten dauert sein 1968 veröffentlichtes Milieudrama „Teorema“, doch diese 98 Minuten ziehen sich im Vorüberziehen. Ist der Versuch also geglückt? Und warum überhaupt erst so ein Versuch? Diese und viele Fragen nach dem Warum, die sich dem „mittleren Konsumenten“ nach dem Schauen von „Teorema“ aufdrängen mögen, ließen sich für mich erst nach einer tiefergehenden Auseinadersetzung mit dem Werk und seinem Autor beantworten – ansatzweise.

    Die Handlung von „Teorema“ ist in wenigen Sätzen beschrieben. Eine Industriellenfamilie, bestehend aus dem Ehepaar Paolo (Massimo Girotti) und Lucia (Silvana Mangano) und ihren Kindern Pietro (Andrés José Cruz Soublette ) und Odetta (Anne Wiazemsky) erhält Besuch von einem jungen Mann. Der Namenlose übt eine unerhörte sexuelle Faszination aus, und zwar auf jeden einzelnen der Hausbewohner, und avanciert so schnell zum Inhalt ihrer sinnlos-unsinnlichen Leben.

    Der Besucher steht dabei symbolisch für das Göttliche. Das Göttliche, das in die inhaltliche Leere einer Familie hineinstürzt, die oberflächlich, nämlich materialistisch betrachtetet, alles hat oder haben kann. Erst jetzt wird ihnen die Verlogenheit ihrer Existenz gewahr und ihre intimen Wünsche erwachen. Nach seiner plötzlichen Abreise hinterlässt der Gast nichts weiter als grenzenlose Leere und ein seelisches Chaos, das Mutter, Vater, Tochter und Sohn auf unterschiedlichste und absurdeste Weise zu kompensieren versuchen – vergeblich. Schließlich werden alle vier, „die Realität dadurch gewinnen, dass sie sie verlassen, aus ihr heraustreten – zur Wüste zurückkehren.“ 2

    Das komplexe Motiv der Wüste, das in immer wieder eingefügten Einstellungen erscheint, wird vor allem in den Gedichten des gleichzeitig veröffentlichten und besser verständlichen Romans „Teorema“ erläutert, es bedeutet „zugleich das Nichts und das Prinzip des Anfangs und der Einheit“ 3. Odetta verstummt, Pietro versucht, blind zu malen, und der Vater Paolo verschenkt seine Fabrik und begibt sich dann tatsächlich in die reale Wüste, nackt. „All das ist in gewisser Weise eine Erlösung, doch ihr Sinn bleibt offen.“ 4

    Die einzige nicht-bürgerliche Figur des Films ist die Hausmagd Emilia (gespielt von Laura Betti, die alte Bäuerin; die sie führt, ist Pasolinis Mutter). Nachdem der göttliche Besucher das Haus verlassen hat, kehrt sie zu ihren ländlichen Wurzeln zurück und verfällt in eine Form von Autismus. Schließlich schwebt sie in einem Wunder über den Dächern ihres Bauernhofs und kann mit ihren Tränen Kranke heilen – auch wenn sie sich selbst nicht zu retten vermag.

    Der gesprochenen Sprache verweigert sich Pasolini fast aufs äußerste: Nicht einmal 1.000 Wörter bekommt man zuhören, das wenigste davon in Dialogen, als in Monologen aus dem Off, die meist den Charakter von Tagebucheinträgen und Bewusstseinsströmen tragen. Auch aus den wenigen gesprochenen Worten ist also kaum Hilfe zum Verständnis der abstrakten Bilder und Geschehnisse zu erwarten. Dies geschieht nicht ohne Grund: Pasolini war vor seiner Arbeit als Regisseur zwei Jahrzehnte lang insbesondere als Schriftsteller tätig und publizierte auch noch während seiner Arbeit als Filmemacher Gedichte und Artikel in Zeitungen. Viele seiner Aufsätze und Filme beeinflussten bis heute nachhaltig den italienischen Film. Nachdem er jedoch sein Unterfangen, mithilfe von Gedichten und Romanen die Wirklichkeit zu transportieren, gescheitert sah, entdeckte er im Film, der den „Umweg“ über die Sprache nicht mehr benötigte, die höchste Form des künstlerischen Ausdrucks in seinem Sinne:

    „Die geschriebene und gesprochene Sprache basiert auf Zeichen, die die Realität evozieren und wie viele ‚Pawlowsche Klingeln’ funktionieren: wenn ich ‚Stuhl’ sage, klingt die ‚Pawlowsche Klingel’ und der Hörer denkt an einen ihm wohlbekannten Stuhl. Das Kino dagegen drückt die Realität mit der Realität aus, und ist daher eine von den anderen völlig verschiedene Sprache; [die] nicht symbolisch ist. [...] Ich liebe das Kino, weil ich mit dem Kino immer auf der Ebene der Realität bleibe.“ 5

    So versuchte Pasolini auch in „Teorema“ seinem Bild von der Welt, in zutiefst autobiographischer Manier, Ausdruck zu verleihen. Pasolinis Leben, das 1922 in Bologna im ländlichen Friaul begann, war gezeichnet von zahllosen inneren Widersprüchen und Schicksalsschlägen, die aufzuzählen an dieser Stelle zu weit führen würde. Insbesondere jedoch seine unterdrückte Homosexualität, die er erst in nächtlichen Streifzügen in den „Borgate“, den ghettoartigen Randvierteln Roms, auszuleben vermochte; die grenzenlose Liebe zu seiner Mutter, die zum Teil auch im Hass gegenüber dem Vater ihren Ursprung hatte; das für ihn katastrophale Versinken eines ursprünglichen, ländlich-romantischen Italiens in Bürgertum und Wirtschaftswunder nach dem Krieg; das Verschwinden jeglicher Formen des Andersseins in Uniformität seien nur als einige Anhaltspunkte genannt. Unzählige von Pasolinis Filmen und Romanen wurden missverstanden, als Skandal verrissen, waren Mittelpunkt von Kontroversen und diversen gerichtlichen Prozessen. Für Pasolini stellte all dies einen höchstpersönlicher Angriff dar, und er versuchte unermüdlich, sich und seine Werke zu erklären, zu legitimieren. (Auch „Teorema“ wurde gleichzeitig wegen „Obszönität“ beschlagnahmt und paradoxerweise mit dem begehrten „Katholischen Filmpreis“ ausgezeichnet.)

    „Teorema“ ist kein Film, der im vordergründigen Sinne Spaß macht, zu sehen. Er ist einer der vielen Versuche Pasolinis idealistischem Anliegen, die Realität (seine Realität?) unverfälscht zu zeigen, zu reproduzieren und damit auch eine Verlustgeschichte zu beschreiben. Einen Verlust zentraler, traditioneller, „heiliger“ Werte, die Zerstörung dieser Werte durch die bürgerliche Zivilisation; den Übergang der Gesellschaft in den Neokapitalismus. Durch seine, voll beabsichtigte, extreme Abstraktheit und Symbolik erzeugt „Teorema“ trotz ausdrucksstarker Darsteller und einer genauen Komposition eine Unzugänglichkeit, die sich erst nach einer detaillierteren Auseinandersetzung mit dem Autor und der zeitgenössischen, subjektiven Wahrnehmung seiner Umgebung aufbrechen lässt.

    Natürlich: Kino kann, muss und sollte nicht immer erklärbar sein, oft liegt der Reiz gerade auf der visuellen Ebene, in der Atmosphäre, in Details. Auch kann Unverständlichkeit anregen zum Nachdenken. Wenn sich jedoch eine mehr oder weniger bewusste Intention, ein zu transportierendes Ideal, ein Fingerzeig, eine Warnung, hinter einer extrem abstrakten Bildersprache verstecken, und erst nach Kenntnisnahme der Lebensumstände des Künstlers herauszuschälen sind, scheint mir nicht nur die Berechtigung des Werkes selbst, sondern auch das Wesen des Kinos im Ganzen untergraben. 6 Denn jenes kann per Definition nicht aristokratisch sein:

    „Das Werk Pasolinis wird in der Tat schwierig (für das Kino vielleicht zu schwierig?)“ 7

    1 Duflot, Jean: Il sogno del centauro. Rom 1983, S. 20

    2 Schweitzer, Otto: Pasolini. Hamburg 1986, S. 103

    3 ebd.

    4 ebd.

    5 Razionalità e metafora. In: Magrelli, Enrico (Hrsg.): Con Pier Paolo Pasolini, Rom 1977, S. 78f

    6 Nicht umsonst hatte Pasolini mehr als einmal massive Probleme, zahlungswillige Produzenten aufzutun

    7 Schweitzer, a.a.O., S. 101

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