Die eine Hälfte eines bemerkenswerten Doppel-Projekts
Von Michael MeynsFast immer ist ein Film ein geschlossenes Werk. Die Figuren existieren in den 90 oder 120 Minuten, die der Film dauert, dann ist ihre Geschichte erzählt. Nur selten versuchen Filmemacher*innen, diese hermetische Form aufzubrechen. In den letzten Jahren ist zwar das ein oder andere Mal vorgekommen, dass mithilfe von Kurzfilmen oder auch Comics etwa eine Vorgeschichte zum eigentlichen Film nachgereicht oder die Brücke zwischen einem Original und einer Fortsetzung geschlagen wurde.
Was der portugiesische Regisseur João Canijo in seinem Film „Bad Living“ macht, ist aber noch mal etwas ganz Besonderes: Zwar funktioniert das Drama rund um eine Hoteliers-Familie sowie mindestens komplizierte, wahrscheinlich sogar toxische Mutter-Tochter-Beziehungen auch für sich stehend ausgezeichnet. Aber Canjiro hat zusätzlich trotzdem noch einen Parallelfilm namens „Living Bad“ gedreht, der zur selben Zeit im selben Hotel spielt, aber statt des Personals und der Besitzerinnen die Gäste in den Mittelpunkt stellt. Ein bemerkenswertes formales Experiment.
In den drei Generationen der Hoteliers-Familie, die in „Bad Living“ aufeinandertreffen, haben sich ganz schön viele Mutter-Töchter-Konflikte angestaut.
Ein einsames Hotel, irgendwo in der Nähe der portugiesischen Küste. Gut läuft das Haus nicht mehr, nur wenige Gäste sind zu Besuch. Die Frauen, denen das Hotel gehört, machen sich Sorgen. Geschäftsführerin ist Piedade (Anabela Moreira), die so wie ihre Mutter Sara (Rita Blanco) auch selbst im Hotel lebt. Nun ist auch noch Piedades Tochter Salomé (Madalena Almeida) angekommen, deren Vater, von dem Piedade schon lange getrennt war, gerade verstorben ist. Das Verhältnis der Frauen aus drei Generationen ist distanziert und kühl, unausgesprochene Verletzungen und Vorwürfe stehen im Raum. Ebenso das Gefühl, nicht genug Aufmerksamkeit bekommen zu haben, nicht geliebt worden zu sein.
Vom ersten Moment an besticht „Mal Viver“ durch seine formale Strenge: In langen Einstellungen zeigt João Canijo das Geschehen, das sich nur manchmal direkt vor der Kamera abspielt, öfter dagegen in der Tiefe des Bildes, das durch Türrahmen oder Fenster eingerahmt ist. So wird die Geographie des Hotels angedeutet, während die Figuren im selben Moment schon durch die Kamera getrennt werden. Neben den prägnanten Bildern ist besonders der Ton bemerkenswert: Immer wieder überlagern sich Unterhaltung und Wortfetzen, so dass nicht immer ganz eindeutig ist, welche der Figuren etwa in einer Totalen der Pool-Anlage man gerade hört. Das gilt besonders auch für eine weitere markante Einstellungen, die „Bad Living“ und seinen Parallelfilm „Living Bad“ verbindet. Die dunkle Fassade des Hotels ist hier zu sehen, einige Zimmer sind heller beleuchtet, andere schummrig, so dass nur schemenhaft zu erkennen ist, wer sie bewohnt.
Ein wenig erinnert diese Einstellung an den Hinterhof in Alfred Hitchcocks „Fenster zum Hof“, wo der an den Rollstuhl gefesselte James Stewart beobachtet, wie sich in den Fenstern seiner Nachbar*innen kleine Dramen abspielen. Und ähnliches passiert auch hier: Drei Mal wird diese Einstellung in „Living Bad“ wiederholt, in jeder der drei Episoden, aus denen der Film besteht.
In ihnen spielen jeweils Figuren die Hauptrollen, die in „Bad Living“ noch im Hintergrund standen, die im Restaurant bedient wurden oder an der Rezeption eincheckten. Drei Paare sind es, eines, dessen Mann ständig mit seiner Mutter telefoniert, eines, in dem die Mutter gar zusammen mit ihrer Tochter und deren Mann in den Urlaub gefahren ist, und schließlich ein junges lesbisches Paar, das von der Mutter der einen Frau auseinandergetrieben wird.
Salomé (Madalena Almeida) sehnt sich nach der Liebe ihrer (depressiven) Mutter – weiß aber insgeheim, dass sie diese wohl nie bekommen wird.
Manche Szenen aus „Bad Living“ sieht man in „Living Bad“ in anderer, leicht variierter Perspektive, hier sind Piedade oder Salomé plötzlich nicht mehr die Protagonistinnen, sondern Nebenfiguren. Man könnte dieses formale Experiment leicht als Spielerei abtun, tatsächlich ist es auch nicht notwendig, den einen Film zu sehen, um den anderen zu verstehen. Stattdessen sollte man „Living Bad“ als thematische Weiterführung begreifen, in der das Thema Mutter-Tochter-Beziehungen noch vertieft und erweitert wird. Nicht, dass nicht auch schon in „Bad Living“ deutlich genug würde, wie toxisch diese Beziehungen sein können, wie Verletzungen über die Generationen weitergegeben werden und sich in den Menschen festsetzen können.
Auch auf das Schicksal Portugals spielt João Canijo hier an, auf die Phase der Diktatur, die Mitte der 1970er Jahre vorbei ging. 50 Jahre ist das nun zwar schon her, also gut zwei Generationen, aber wie man auch in Deutschland und dem Umgang mit der Einheit sieht, sitzen Verletzungen oft tief und werden meist auch noch von Vertreter*innen der Generationen verinnerlicht, die erst viel später geboren wurden. Vor allem diese inhaltliche Komplexität, die Vielschichtigkeit der Figuren, die formale Strenge der Inszenierung macht die Qualität von „Bad Living“ aus. Der Parallelfilm „Living Bad“ ist nur eine Art Zusatz, eine Ergänzung, ein formales Experiment, das die Thematik der beiden Filme vertieft, allerdings auf vor allem formal sehr interessante, ungewöhnliche Weise.
Fazit: Einen formal strengen, sehr dichten Film über toxische Mutter-Tochter-Verhältnisse hat der portugiesische Regisseur João Canijo mit „Bad Living“ gedreht. Wer die Gelegenheit hat, sollte auch einen Blick auf den Parallelfilm „Living Bad“ werfen, der Figuren und Themen variiert und das auch so schon beeindruckende Drama zusätzlich noch zu einem spannenden formalen Experiment ausbaut.
Wir haben „Bad Living“ im Rahmen der Berlinale 2023 gesehen, wo der Film in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.