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    L'immensità - Meine fantastische Mutter
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    L'immensità - Meine fantastische Mutter

    Penélope Cruz' Gesicht überstrahlt alles

    Von Janick Nolting

    L’Immensità” beginnt als eindrucksvoller Film über das Gesicht von Penélope Cruz. In den ersten Nahaufnahmen nach dem Prolog wird es in seine Einzelteile zerlegt: die Lippen, die Augenpartie, Wimpern, Haut, Make-Up. Schritt für Schritt setzt sich ein Mensch zusammen. Oder vielmehr: eine Fassade, die sich Cruz’ Figur erschafft. Es ist eine eindrucksvolle Persönlichkeit, welche die Schauspielerin zum Leben erweckt. Wenn sie als verzweifelte Mutter auf der Leinwand agiert, dann lässt dieser Film seine eigentliche Kraft durchschimmern. Doch auch einer Penélope Cruz gelingt es nicht, die Unentschlossenheit zu beheben, die dem Familien-Drama von „Golden Door“-Regisseur Emanuele Crialese innewohnt.

    Penélope Cruz spielt eine Frau namens Clara Borghetti, die in den 1970er-Jahren mit ihrem Mann Felice (Vincenzo Amato) eine Neubauwohnung in Rom bezogen hat. Obwohl die Ehe der beiden bereits Risse zeigt und Felice tyrannisch handelt, versucht Clara, den Alltag der Familie am Laufen zu halten und ihren drei Kindern eine glückliche Kindheit zu ermöglichen. Sie hängt fest zwischen dem Drang, zu fliehen, ihr eigenes Leben zu leben, und den ihr auferlegten Verpflichtungen als Mutter. Die Spannungen in der Familie nehmen zu, als die älteste Tochter Adri (Luana Giuliana) anderen gegenüber vorgibt, ein Junge zu sein…

    Das Gesicht von Penélope Cruz eröffnet und trägt den Film.

    Emanuele Crialeses Film beschreibt in erster Linie ein Lebensgefühl. Der italienische Regisseur und Drehbuchautor zeichnet das Porträt einer Kindheit auf der Kippe. Letzte Spuren von Unbedarftheit sind noch zu erkennen, während eigentlich schon nichts mehr so ist, wie man es sich selbst gern einreden möchte. „L’Immensità” taucht schwelgerisch in den Alltag der Sprösslinge ein, begleitet sie beim Spielen und Erkunden der städtischen Umgebung. Aber auch bei den Schockerlebnissen, die ihnen widerfahren, etwa wenn die Abgründe innerhalb der Familie offenbar werden. Schlussendlich kreiert dieser entschleunigt erzählte Film damit nur sehr vage einen herkömmlichen Spannungsbogen. Er lebt vielmehr in einzelnen Momenten auf, in Episoden, die das Alltägliche schreibt.

    Und doch schält sich in all den gezeigten Routinen eine zentrale Beziehung heraus: die zwischen der jungen Adri und ihrer Mutter. Letztere scheint als einziges Familienmitglied vollstes Verständnis für die Identitätskrise ihrer Tochter zu haben. In manchen Momenten erinnert „L’Immensità” dabei an eine abgespeckte Version von Celine Sciammas „Tomboy”, der mit seiner androgynen Protagonistin ähnlich unaufgeregt vom Durchkreuzen von Geschlechterklischees erzählte. Wenn beide Darstellerinnen, Penélope Cruz und Luana Giuliana, gemeinsam vor der Kamera agieren, dann sind das mitunter starke, vielschichtig gespielte Einzelmomente. Leider scheint „L’Immensitá selbst auf einem Auge blind für sie zu sein, ansonsten würde er ihnen mehr Platz einräumen.

    Ein Traum vom großen Musical

    Emanuele Criales schreckt nicht vor Brüchen in seiner Fiktion zurück, wenngleich sein Werk viel zu selten solche inszenatorischen Spielereien an den Tag legt. Tanz- und Gesangsnummern im Schwarz-Weiß-Fernsehen eröffnen einen Freiraum für das Träumen, eine Weltflucht. Mitten im Film verwandelt sich das Innere einer Kirche plötzlich in eine Bühne für eine große Musicalnummer. Für einen kurzen Moment schafft sich das ansonsten allzu konventionell inszenierte Familiendrama eine etwas abgegriffene, aber dennoch passende Varianz in der Form.

    Es ist bei alldem ein Film, der auf leisen Sohlen seine Gefühle auszubreiten versucht: Melancholie, Zukunftsängste, Nostalgie. Außerdem ein gewisses Staunen über die Fragilität, die er in dem sich verändernden Rom der 1970er-Jahre erkennen will. Mit dem Abreißen, Um- und Neubauen der Stadt verändert sich auch das Familiengefüge. Doch da will kein Funke überspringen. Vieles erscheint zu zerstreut und unausgegoren in seinen Beobachtungen. Es fehlt an Fokus, echter Nähe und Intensität, um in die Stimmungen der filmischen Welt vollends einzutauchen. Das liegt vor allem daran, dass „L’Immensità” seine zentrale Mutter-Tochter-Geschichte mit zu viel schmückendem Beiwerk übertüncht.

    Emanuele Crialese überfrachtet seinen nur etwa anderthalbstündigen Film mit Charakteren, die zu wenig Konturen erhalten, und soziokulturellen Studien, die zu reißbrettartig im Hintergrund ablaufen, um ihr Zeitkolorit auf der Leinwand mit Leben zu füllen. Lebensräume verändern sich da, Menschen werden vertrieben. Formen des Zusammenlebens, Familienideale, Konflikte zwischen Geschlechterrollen sollen verhandelt werden. Selbst ein Anflug religiösen Haderns wird anhand der Adri-Figur angerissen. All diese Aspekte sind durchaus interessant, aber zu zahlreich eingestreut. Sie sind wie Adris himmlische Anrufungen ins Nichts hineingesprochen.

    Die Höhepunkte fehlen

    Wo bleiben denn in „L’Immensità” die Zuspitzungen, die Höhepunkte, die Entwicklungen? Allzu betulich und spannungsarm mäandert Crialeses Film durch seine parallel ablaufenden familiären Krisenerscheinungen. Das ist ein Film, der sicherlich eine gewisse Atmosphäre aufzubauen weiß, der italienisches Sommerflair mit beklemmender Enge kontrastiert. Aber der sich indes auch seine eigene Wucht raubt.

    Vielleicht liegt ja sogar eine zufällige Form der Konsequenz in dem Stillstand, der sich in diesem Film irgendwann einstellt. Orientierungslos blickt man der Zukunft entgegen. Das Familienidyll ist in seine Einzelteile aufgebrochen. Zusammenhalt besteht rein oberflächlich. Wenn später erneut im Film gesungen wird, dann ist das nicht nur ein Herbeiträumen einer anderen Zukunft, es ist ein Klagegesang darüber, was nicht mehr zu retten ist.

    Fazit: Emanuele Crialese lässt eine gewisse Feinfühligkeit erkennen, mit der er in „L’Immensità” eine Familie in ihrem Zerfall beobachtet. Leider verlieren sich zu viele spannende Einzelfacetten im familiären und zeithistorischen Durcheinander, um die eigentlich in ihnen schlummernde Schlagkraft und Tragik entfalten zu können.

    Wir haben „L’Immensità” beim Filmfestival in Venedig gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.

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