Das Leben nach der Apokalypse – als Musical!
Von Patrick Fey2024 ist das Jahr des großen, ambitionierten Films. Es ist noch kein halbes Jahr vergangen, da feierte Francis Ford Coppolas in jeder Hinsicht unvergleichlich-megalomanischer „Megalopolis“ in Cannes seine Weltpremiere – die Pressereaktionen hätten polarisierter kaum ausfallen können. An gleicher Stelle war auch das erste von vier geplanten Kapiteln von Kevin Costners selbsterklärter Western-Saga „Horizon“ zu sehen, deren zweiter Teil nur wenige Monate darauf beim Filmfestival von Venedig folgte. Dort wiederum wurde auch Brady Corbets „The Brutalist“ uraufgeführt, der seinerseits den Versuch eines ‚all-American Epos‘ darstellte – ganz im Stil von Sergio Leones „Es war einmal in Amerika“ und Paul Thomas Andersons „There Will Be Blood“.
Sieht man all diese Projekte unter dem Vorzeichen der Ambition, wäre es allzu kurzsichtig, Joshua Oppenheimers postapokalyptisches Musical „The End“ außer Acht zu lassen. Noch zur selben Zeit, in der „The Brutalist“ in Venedig erste Jubelstürme hervorrief, feierte dieses in den Bergen von San Juan beim Telluride Film Festival seine Weltpremiere. Was „The End“ mit all den zuvor genannten Werken eint, ist nicht nur die Überlänge (hier: 2 Stunden und 28 Minuten), sondern auch der langwierige, komplizierte Schaffensprozess, der im Rahmen der Premiere immer wieder hervorgehoben wurde. Acht Jahre waren dies im Falle von Oppenheimers Spielfilmdebüt, das uns noch im Vorspann über die enorme Vielzahl an Film-Fördertöpfen erinnert, die es brauchte, um das Projekt zu realisieren. Und, nicht ganz unähnlich zu einigen anderen ‚großen, ambitionierten Filmen‘ dieses Jahres, lässt sich auch hier nur schwer sagen, ob es die Mühe wert war.
Mit seinem oscarnominierten Doppelschlag „The Act Of Killing“ (2012) und „The Look Of Silence“ (2014) rief der gebürtige Texaner nicht nur die in den 1960er Jahren von der indonesischen Militärdiktatur verübten Massaker in unser gegenwärtiges Bewusstsein, sondern reflektierte außerdem darüber, wie selbige Gräueltaten in der Gesellschaft erinnert werden. Und wie sie schließlich als Geschichten überdauern. All diesen Geschichten gemein ist die Verdrängung, mithilfe derer sie im Alltag sorgsam unter Verschluss gehalten werden. Dieser Aspekt führt uns nun zu „The End“, der, wie man es vom ersten Spielfilm eines Dokumentarfilm-Machers kaum anders erwarten würde, seinen Ursprung in realen Ereignissen hat.
Nachdem Oppenheimer „The Look Of Silence“ abgeschlossen hatte, las er von einem Milliardärspaar, das sich für den Fall einer eintretenden Apokalypse einen Luxus-Bunker bauen ließ. „Doomsday Prepping“ nennt sich dieser Trend, dem eine Vielzahl paranoider Superreicher seit einigen Jahren vermehrt folgt. Ein Trend, dem Douglas Rushkoff einen nicht unerheblichen Teil seines Buches „Survival Of The Richest: Escape Fantasies Of The Tech Billionaires“ widmete. Ein solches Paar steht auch im Zentrum von „The End“. Gespielt wird es von Tilda Swinton („The Room Next Door“) und Michael Shannon („Man Of Steel“). Im Bewusstsein darüber, dass jedem Ende auch ein Anfang innewohnt, situiert Oppenheimer sein „Ende“ im Nachgang der Klimakatastrophe, die die Menschheit an den Rand ihrer Auslöschung getrieben hat.
Dass sich Oppenheimer bei der Erzählung dieser Geschichte für die Form des Musicals entschieden hat, mag vor allem daran liegen, dass dieses wie kein zweites Genre immer nur einen Akkord von einer Traumwelt entfernt ist. Oppenheimer, wie auch Todd Phillips, dessen „Joker: Folie À Deux“ zum gleichen Zeitpunkt in Venedig Premiere feierte, ist es nun ein Anliegen, diese Struktur offenzulegen. Nicht unähnlich zu Leos Carax' „Annette“ kommt dies bewusst disharmonisch und unmelodiös einher, nicht zuletzte, um die Abstrusität der parallelen Musical-Welt zu betonen.
Die Handlung setzt mehr als 20 Jahre nach der erwähnten Klimakatastrophe ein. Das besagte Paar lebt seitdem in einer tiefgelegenen, zum opulenten Bunker umfunktionierten Salzmine (gedreht wurde in einer realen Mine in Sizilien). Die Gesellschaft der beiden besteht aus ihrer besten Freundin (Bronagh Gallagher), einem Arzt (Lennie James) und (quasi-standesgemäß) einem Hausangestellten (Tim McInnerny). Dass man bei dieser Familie beinahe automatisch wieder in Ständen denkt, ist nicht allein auf das sie begleitende Personal oder auf das Überlebensprivileg zurückzuführen, das ihnen der Bunker ermöglicht hat. Es drückt sich zudem in der Kunst aus, die die hohen Wände der höhleneigenen Gründerzeitwohnung schmückt.
Auch die Blässe – ein Ergebnis des Vitamin-D-Verzichts unter der Erde – und das lockig-geschwungene Haar, welches den Eheleuten auf die exquisiten Wangen fällt, hat etwas Vornehmes. Zur Familie gehört zudem noch ein Sohn – gespielt vom alles überragenden George MacKay („1917“). Eines Tages – wie es das Genre des postapokalyptischen Kinos gewissermaßen verlangt – geschieht allerdings das nicht für möglich Gehaltene, aber insgeheim immer Befürchtete: Eine Unbekannte (Moses Ingram) tritt an die Türschwelle und bittet um Hilfe. Mit ihrer Ankunft wird der Sohn zu etwas fähig, was seine Eltern lieber unterdrückt hätten: Gewissenhaftigkeit und kritischem Denken.
Durchaus clever, wenngleich sich uns dies erst in der Rückschau erschließt, bindet Oppenheimer uns noch im Vorspann an die Perspektive des Sohnes, indem wir vermeintliche Naturaufnahmen sehen, die sich bei genauerer Betrachtung allerdings schnell als gemalt herausstellen. Ebenso wie wir über die gesamte Laufzeit im unterirdischen Höhlentrakt verweilen, ist auch MacKays Figur innerhalb der kühl-schimmernden weißen Salzwände sozialisiert worden. Den Himmel hat er nur durch die im heimischen Salon ausgestellten Gemälden der großen Meister und den digitalen Bildschirm eines iPads kennengelernt. Die humanistische Bildung, die ihm seine Eltern mittels der hauseigenen Bibliothek haben zukommen lassen, wendet sich mit der Ankunft der Fremden aber gegen sie.
Wie in seinen bisherigen Filmen ist Oppenheimer auch hier besonders an der Frage interessiert, wie Menschen ihre eigene Geschichte formen und wahrnehmen. Vor allem „die Fähigkeit, uns selbst zu belügen“, so verriet der Filmemacher im Rahmen des Filmfestivals von Toronto, habe sich schnell zu einem der Schwerpunkte seines disharmonischen Musicals kristallisiert. Verkörpert wird dieses Muster insbesondere vom Elternpaar. Shannon darf hier als ehemaliger Großindustrieller punkten, der in der Zeit vor der großen Katastrophe seinen absurd großen Reichtum mithilfe fossiler Energie anhäufte. Und der, nunmehr erwerbslos und somit seines bisherigen Lebenssinnes beraubt, sich daran setzt, mithilfe seines Sohnes seine Memoiren zu verfassen.
Das ist durchaus mit griffigen Pointen gespickt. An einer Stelle etwa verkündet Shannons Figur, ohne sich der Doppeldeutigkeit bewusst zu sein, er habe mit seiner Arbeit „einen Unterschied“ gemacht. Oppenheimer nähert sich so dem vermeintlichen Patriarchen vor allem als eine Figur der Selbstverleugnung. Der Geschichtsrevisionismus, mit dem der Vater die Fehler der Vergangenheit durch eine Umerzählung in der Gegenwart auszumerzen versucht, verspricht durchaus Potenzial, gerät bisweilen allerdings zu offensichtlich und nimmt den Situationen durch Übererklärung ihren Witz. Dass die Szenen dennoch oft funktionieren, liegt nicht zuletzt an Michael Shannon selbst, der sein musikalisches Talent bereits in der Rolle als Country-Sänger George Jones für die Showtime-Serie „George & Tammy“ unter Beweis stellte. Hier muss er noch einmal ein gänzlich anderes Register an komödiantischem Timing an den Tag legen.
Dass seine Figur sich insgesamt besser einfügt als jene von Tilda Swinton, mag indes daran liegen, dass Oppenheimer an dieser das vermeintlich größere persönliche Drama verhandeln will. Allerdings gelingt ihm das nur mit mäßigem Erfolg. Dies fällt besonders in Momenten auf, in denen uns der Regisseur an Swintons komödiantisches Potenzial erinnert – etwa, wenn wir sie dabei beobachten, wie sie durch impulsives Essen oder so lächerliche wie ungelenke Ablenkungsversuche ihre Fehltritte zu verstecken versucht. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, wie ein Film eine gänzlich andere Wirkung entfaltet hätte, wenn nur ein paar andere Entscheidung getroffen worden wären. Aber es wäre vielleicht interessanter gewesen, die Komplexität der Mutterfigur in der Gegenwart zu erkunden, statt sich auf ihre Vergangenheit zu konzentrieren.
Von der Unschlüssigkeit des Drehbuchs, die auch in der gesamten zweiten Hälfte immer wieder zum Problem wird, ist hingegen keine Spur mehr, sobald eine Szene alle Aufmerksamkeit auf George MacKay wirft. Nicht nur singt er alle anderen an die Wand, ihm wird auch die größte Bandbreite an Physikalität und Emotionen abverlangt. Dass sich „The End“ mit zunehmender Laufzeit als Film entpuppt, der kaum mehr tut, als die große Idee der Selbsttäuschung in kaum veränderten Variationen zu wiederholen, lässt sich angesichts eines entfesselt aufspielenden George MacKay beinahe vergessen.
„The Future is bright“, an dieser Parole hält seine Figur über die Laufzeit hinweg fest. Aus Sicht des Sohnes spiegelt sich in dieser Postulation zunehmender Wahnsinn. Wir Zuschauer indes, die wir MacKay nach seiner großartigen Rolle als Louis Lewinsky in Bertrand Bonellos „The Beast“ erneut in Bestform sehen, können bestätigen: Die Zukunft sieht (für den Schauspieler) rosig aus. Ob sich Gleiches auch über Joshua Oppenheimers Zukunft als Spielfilm-Regisseur sagen lässt, bleibt abzuwarten.
Fazit: Mit seinem postapokalyptischen Musical „The End“ stellt Joshua Oppenheimer seine Ambitionen als Spielfilmregisseur unter Beweis, ohne jedoch die emotionale Tiefe seiner Dokumentationen zu erreichen. Visuell opulent und überdies mit einem herausragenden George MacKay aufwartend, gelingt es Oppenheimer in seinem fiktionalen Debüt nur bedingt, originelle Fragen zum zentralen Thema der Selbsttäuschung zu stellen. Stattdessen scheinen die meisten Antworten schon mitgeliefert, was nur bedingt Neugierde auf Oppenheimers zukünftige Projekte weckt.
Wir haben „The End“ beim Filmfest Toronto 2024 gesehen.