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FILMGENUSS
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3,5
Veröffentlicht am 18. Mai 2023
EL CONDOR PASA
Damals hat der österreichische Poet Ludwig Hirsch den großen, schwarzen Vogel in seiner Ode an den Tod als Bote des Jenseits deklariert. Die Krähe weicht aber, sobald man den Atlantik überquert und in Südamerika ankommt, einem ganz anderen gefiederten Freund: Dem Kondor. Was dieser tut, wenn er weiß, dass sein Leben zu Ende geht? Er fliegt auf den höchsten Gipfel der Berge, und stürzt sich dort in den Tod, bevor das Leben all seine Würde verliert. Mit der Mentalität dieses stattlichen Tieres kann der alte Virginio ganz gut umgehen. Und er weiß auch: Lässt sich der Kondor blicken, kann das nur eines bedeuten. Das Leben geht zu Ende. Und dennoch heißt es: so lange weitermachen, bis der Arzt kommt. Oder bis er eben nicht kommt. Oder wieder geht. Denn Virginio, der braucht keine Hilfe von irgendwem. Schon gar nicht will er in die Stadt zu seinem Sohn, mit dem er sich längst zerstritten hat. Ehefrau Sisa sieht das vielleicht etwas anders. Aber sie fragt ja keiner. Sie weiß auch nicht, dass Virginio unter heftigen Hustenanfällen leidet, und die tagtägliche, kilometerlange Wanderung mit der hauseigenen Lamaherde immer mühsamer wird.
Da taucht plötzlich Enkel Clever auf, der seine Großeltern über alles liebt und auch dem mürrischen Opa zur Hand gehen will. Der ist skeptisch und sieht in Clevers Erscheinen nur eine indirekte Botschaft seines Sohnes, endlich die alte Hütte im Nirgendwo aufzugeben. Denn die Dürre hier im bolivianischen Hochland hat den letzten Brunnen des nahen Dorfes austrocken lassen. Der Weg zum Wasser wird immer länger. Die Ernte geht nicht auf, und dann bricht Virginio unterwegs auch noch zusammen. Das Ende einer Existenz im Einklang mit der Natur ist gekommen. Dagegen kann auch der Enkel nichts machen, denn wer nicht will, der hat schon alles, was er braucht.
Wie die älteste, noch lebende Generation mit dem Klimawandel zurechtzukommen versucht – diese Betrachtung eines hingenommenen Untergangs mehr schlecht als recht am Leben gehaltener Traditionen wurde beim Sundance Filmfestival 2022 mit dem World Cinema Grand Jury Price ausgezeichnet. Alejandro Loayza Grisi lässt in seinem beschaulichen und zugleich unwirtlichen Naturalismus-Drama weniger die Worte als vielmehr Geräusche sprechen. Der rasselnde Atem des an einer Lungenkrankheit leidenden alten Viehbauern zieht sich von Anfang bis Ende durch den ganzen Film. Einmal ist es ein kehliges Röcheln, dann schweres Luftholen, dann erbärmlicher Husten. Sein Schnaufen steht für eine Existenzgrundlage in ihren letzten Atemzügen. Dazwischen hören wir die eigenwilligen Töne der wuscheligen Kamele, das Knirschen von Sand und Steinen unter den Schuhen der Wandernden; das Grollen des Donners oder den Wind, der über die Ebene fegt. Der Sound von Utama. Ein Leben in Würde ist als nonverbales Requiem komponiert, während die beiden Alten gar nicht so viel zu sagen haben, sondern lieber diesem Abgesang lauschen, da sie mit ihren Gesten und Blicken genügsam genug sind.
Wie sehr es schwerfällt, im Alter den Umbruch zu akzeptieren, ist zwar keine wirklich neue Erkenntnis – doch der Blick in eine so ferne, alte und bis in die Gegenwart archivierte Welt macht klar, was auf diesem ganzen Erdball als einzige Sache wirklich alle angeht, und zwar wirklich alle, bis zum letzten Eremiten irgendwo versteckt in den Bergen: Das Ende des Klimas, so wie wir es kennen. ___________________________________________ Mehr Reviews und Analysen gibt's auf filmgenuss.com!