Erstaunlich ambitionierter Cat Content
Von Jochen WernerEinem Film wie „Lou – Abenteuer auf Samtpfoten“, der mit sehr jungen Kätzchen in Großaufnahme beginnt, kann man natürlich nicht böse sein. Diese trifft allerdings zunächst ein hartes Los, fällt doch die Katzenmutter bereits im Prolog während der Mäusejagd vom Dach – und weil das ziemlich hoch ist, vermögen da selbst ihre sprichwörtlichen sieben Leben keine Abhilfe mehr zu schaffen. Hungrig und verängstigt bleiben die Kätzchen auf dem Dachboden zurück, bis sie von der zehnjährigen Clémence (Capucine Sainson-Fabresse) und ihrer Freundin gefunden werden. Clémence selbst adoptiert – gegen den Protest von Mutter Isa (Lucie Laurent) – eines der vier Kätzchen. Getauft wird es auf den Namen „Lou“ (oder im französischen Original „Rrou“, was lautmalerisch das Schnurren des Tiers umschreibt).
Das Mädchen und die Katze werden zunächst unzertrennlich – und Regisseur Guillaume Maidatchevsky erzählt in „Lou“ zunächst einmal die Geschichte einer Domestizierung: Das Kätzchen, das anfangs noch ebenso abenteuerlustig wie die unglückliche Mutter über die Dächer von Paris kraxelte, gewöhnt sich allmählich an das Leben als Wohnungskatze – so weit, dass es schließlich schon von ganz allein in den Transportkäfig tapst. Als die Familie das neue Haustier jedoch in die Ferien mitnimmt, wo es die Wälder rund um das elterliche Ferienhaus in den Vogesen erkundet, in manche Gefahr gerät und doch gleichzeitig auch entdeckt, was ein freies Tierleben in der Natur bedeutet, kehrt sich dieser Domestizierungsprozess zunehmend um – und Lou wildert sich selbst immer mehr aus...
Der Film gesteht Lou zwar seine Wildheit zu – zeigt ihn aber trotzdem als sooooo süß!
Guillaume Maidatchevskys Verfilmung des bald ein Jahrhundert alten Romans „Rrou“ von Maurice Genevoix handelt im Kern von ebendieser Lebensfrage: Was ist vorzuziehen, ein behütetes Leben oder ein freies, das freilich mit allerlei Risiken und Gefahren verbunden ist? „Lou“ ist aber nicht nur die Geschichte des titelgebenden Tieres, das dem Ruf der Wildnis in ein freies Katzenleben hinein folgt, sondern mehr noch die von Clémence, denn in ihrer Liebe zu Lou spiegelt sich auch ihre eigene Geschichte als Scheidungskind. Nach den Ferien auf dem Land eröffnen ihre Eltern ihr nämlich, dass sie sich trennen werden und dass das Ferienhaus verkauft werden soll. Clémences Forderung, noch einmal mit Lou das Haus zu besuchen, erweist sich dann allerdings als folgenschwer, setzt sich die Katze doch unauffindbar in den Wald ab, als Mutter Isa zum Aufbruch drängt.
Die Fürsorge für das nunmehr in freier Wildbahn lebende Tier wird Nachbarin Madeleine (Corinne Masiero) übertragen, einer Einsiedlerin mit eher rauen Umgangsformen, die im Film aber auch als Agentin der oftmals mitleidlosen Gesetze der Natur funktioniert – und die Lou nicht, wie Clémence, als dem Menschen zugehöriges Haustier, sondern als autonomes Wesen mit Freiheitsdrang betrachtet. Die Geschichte der Freundschaft zwischen Mädchen und Katze wird immer mehr zur Geschichte über das Loslassen dessen, was wir nicht halten können – und zur Absage an die Gewalt, die wir einem geliebten Wesen antun müssten, wollten wir es dennoch versuchen.
Das funktioniert im Film allerdings eher nur so halb, denn im Grunde zerfällt „Lou – Abenteuer auf Samtpfoten“ in zwei Teile, die sich gegenseitig eher im Weg stehen als sich zu ergänzen. Denn während die Erzählung einerseits auf der grundlegenden Kreatürlichkeit des Tieres beharrt und in dessen Streben nach und Recht auf Freiheit ihren grundlegenden Impuls findet, greift Regisseur Maidatchevsky in seiner Inszenierung gleichwohl immer wieder auch auf anthropomorphisierende Strategien zurück. So wird Lou auch durch ein sehr süßes weißes Kätzchen zurück in die Wildnis gezogen, mit dem man ihn auf gemeinsamer Entdeckungsreise schmusen sieht: Es sind Bilder, die eher in einen Disney-Film passen als in eine bittersüße Erzählung wie diese, die das grundlegende Anderssein des Tieres zum Thema macht. Dieses lässt sich schließlich nicht wegdiskutieren, egal wie sehr wir in den Augen des Tieres uns selbst zu spiegeln gewohnt sind.
Dieser Kontrast zwischen zwei kaum vereinbaren Perspektiven auf den „Protagonisten“ macht Lou zu einem merkwürdig unstimmigen Film – was noch verstärkt wird durch eine ganze Reihe seltsam empathieloser Handlungsweisen der menschlichen Protagonist*innen. Dass die gekränkte Clémence ihre geliebte Katze des Nachts ausgesperrt und kläglich vor dem Fenster miauen lässt, weil diese ihr zuvor einmal weglief, strapaziert die Glaubwürdigkeit der Figur ebenso wie die grausam-mitleidlose Reaktion ihrer Mutter auf den Verlust des Haustieres ihrer Tochter. Auch Madeleine hat eine allzu große emotionale Rücksichtslosigkeit, ja, beinahe Brutalität an sich, um die Rolle als Sympathieträgerin mit harter Schale und weichem Kern, die der Film gegen Ende immer mehr für sie beansprucht, wirklich auszufüllen.
So bleibt am Ende von „Lou – Abenteuer auf Samtpfoten“ ein zwiespältiger Eindruck zurück. Die Ambition, einen betont unsentimentalen Tierfilm zu inszenieren, wird immer wieder unterlaufen von Klischees, die – etwas paradox – in generischeren Filmen meist weniger stören, aber hier durch den starken Kontrast zu den realistischeren Passagen gnadenlos ans Licht gezerrt werden. Auch als Geschichte von Verlust, Trauer und Loslassenlernen aus Clémences Perspektive überzeugt der Film nur bedingt – und wenn nach immerhin knapp-kurzweiligen 83 Minuten der Abspann läuft, bleibt vor allem die Erinnerung an ambitioniertes Stückwerk zurück.
Aber wie gesagt: Allzu böse sein kann man ihm dabei aber nicht, denn wer könnte schon einem Film, der mit Großaufnahmen von jungen Kätzchen beginnt, böse sein wollen?
Fazit: Ein Film, der erstaunlich viel will und sich dabei aber immer wieder selbst im Weg steht. So richtig finden die verschiedenen Perspektiven auf die Geschichte von Mensch und Tier, Liebe und Freiheitsdrang, Trauer und Loslassen hier leider nie zusammen.