Ein Idyll für Seelenheilkunde
Von Björn BecherBereits in seiner 1996 veröffentlichten Dokumentation „Every Little Thing“ beschäftigte sich der Franzose Nicolas Philibert mit psychiatrischer Behandlung. Damals begleitete er die Patient*innen in einer außergewöhnlichen Klinik im Loiretal bei den Proben für ein Theaterstück. Das Thema hat den Dokumentarfilmer, der 2002 mit „Sein und Haben“ über eine kleine Dorfschule einen internationalen Doku-Superhit gelandet hat, offenbar bis heute nicht losgelassen. 20 Jahre später setzt er deshalb nun gleich zu einer ganzen Trilogie über die verschiedenen Seiten der Seelenheilkunde an.
Bevor er in einem zweiten Teil Krankenhausabteilungen zeigt und im dritten Film Hausbesuche in den Mittelpunkt stellt, spielt der Auftakt an einem ungewöhnlichen Ort: Auf dem fest in der Seine in Paris verankerten Holzschiff Adamant befindet sich ein Tageszentrum für psychisch erkrankte Erwachsene. Auf rund 650 Quadratmeter findet sich hier täglich ein bunter Haufen zusammen, den Philibert im Sommer und Herbst 2021 über mehrere Monate hinweg begleitet hat. Der Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Sur l'Adamant“ kommt den teilweise sehr schillernden Figuren, die hier ein und ausgehen, ganz nahe. So entsteht ein faszinierender Blick auf diese Menschen und zugleich auch ein sehr positives (und vielleicht sogar zu positives) Bild ihres Seins an diesem Ort.
Malen samt anschließender Diskussion über die Bilder ist fester Bestandteil der Tage auf der Adamant.
Philiberts Dokumentation ist dabei nur auf den ersten Blick einer jener Fliege-an-der-Wand-Filme, in denen die Kamera einfach nur da ist und beobachtet. Zwar gibt es keinerlei erklärenden Off-Kommentar (Details zur Institution gibt es erst in Texttafeln am Filmende). Dafür werden der Regisseur und seine kleine Crew aber immer wieder von den Patient*innen selbst adressiert, etwa zu ihrer Ausrüstung befragt. Auch sonst gibt es immer wieder 1:1-Gespräche mit den Menschen, die aber trotzdem keine klassischen Interviews sind. Philibert lässt sie meist einfach über Gott und die Welt sprechen. Selbst wenn ihr Redefluss verstummt, verweilt er mit der Kamera auf ihnen, bis sie wieder von sich aus neu ansetzen. Er selbst wirft aus dem Off meist nur etwas ein, wenn er von ihnen adressiert wird.
So treffen wir nach und nach verschiedene Besucher*innen des Schiffs, die uns aber nicht vorgestellt werden, sondern einfach irgendwann im Bild sind und reden. Dabei ist der französische Dokumentarfilmer offensichtlich am stärksten an jenen interessiert, die etwas exaltierter sind, unterhaltsame Momente abliefern. Da ist zum Beispiel ein optisch ein wenig an Roman Polanski erinnernder Intellektueller, der in einem tollen Moment ein selbst komponiertes Lied aufführt. An anderer Stelle erzählt er eine wilde Geschichte, warum sein Bruder und er angeblich die Vorlagen für die Hauptfiguren in Wim Wenders' „Paris, Texas“ seien (wobei er den vermeintlich stehlenden Regisseur liebevoll als Rabauken beschimpft). „Auf der Adamant“ bringt uns die Patient*innen so vor allem als Menschen näher, auch weil ihre jeweiligen Erkrankungen nie direkt thematisiert werden.
Es stehen dabei ganz klar die Patient*innen im Mittelpunkt. Das Pflegepersonal ist oft gar nicht sofort zu identifizieren. Nur in den angebotenen Workshops oder der Diskussionsrunde über den Wochenablauf, mit dem jeder Montag beginnt, schält sich nach und nach heraus, wer hier zu den Betreuenden gehört. Wenn Philibert so den Tagesablauf beobachtet, erzeugt er den Eindruck, dass das große Holzschiff ein durch und durch idealer Platz ist, an dem sich die Patient*innen frei ausleben können – ob einfach nur beim Morgenkaffee, mit einem Buch in der außergewöhnlich umfangreichen Bibliothek, beim gemeinsamen Marmeladekochen, beim Malen und Musizieren oder beim wöchentlich veranstalteten Filmclub, in dem Klassiker von Fellini und Truffaut laufen.
Richtiger Konflikt wird im ganzen Film nie gezeigt. Da ist jemand beim Wochenmeeting mal ungeduldig und will schon zum nächsten Tagesordnungspunkt springen, akzeptiert dann aber schnell, dass der gleich erst ansteht. Selbst wenn am Ende eine Patientin zu einer ausladenden und zwischenzeitlich sichtlich erregten Rede darüber ansetzt, dass sie nun doch bitte einen wöchentlichen Tanzkurs veranstalten will, reichen ein paar ausflüchtende Worte des Personals, um die Situation zu erledigen. Probleme scheinen hier – kaum vorstellbar mit den sehr verschiedenen Menschen mit teilweise viel Sendungsbewusstsein auf einem engen Ort - keine zu bestehen. Oder Philibert will sie nicht zeigen.
Der heimliche Star auf der Adamant: der Roman-Polanski-Doppelgänger ist Musiker, Filmkenner und Universalgelehrter.
So wirkt die Adamant wie ein fast unwirklicher Ort, den die in Frankreich ebenfalls heftig geführten Debatten um zu wenige finanzielle Mittel für das Gesundheitssystem nicht tangieren. Da sehen wir zwar, wie immer gemeinsam das vorhandene Geld für den Wocheneinkauf bis auf den letzten Cent abgezählt wird oder Obst und Gemüse aus den Entsorgungstonnen eines Händlers geholt werden. Aber trotz der mit diesen Bildern illustrierten Geldknappheit entsteht trotzdem der Eindruck, dass auf diesem wunderbar gepflegten Schiff alles in bester Ordnung ist und immer sein wird. Dass ein Patient bei der Frühsitzung vorschlägt, nun zu beschließen, dass alle einen guten Tag haben werden, passt da bestens rein.
Wer sich mehr für Fakten rund um das Funktionieren der Adamant interessiert, wird in Philiberts Film wenig finden. So fängt die Kamera zwar wiederholt ein, wie sich die schweren Holzplanken vor den Fenstern heben, und das Sonnenlicht sich seinen Weg in das Innere bahnt, doch das Schiff selbst offenbart sich in diesen Momenten nicht. Ein räumliches Gefühl für den imposanten Kahn entsteht nie, auch weil die Kamera meist sehr nah an den Protagonist*innen ist, nur selten den Ort als Ganzes erkundet oder Zusammenhänge zwischen den einzelnen Räumen herstellt.
Bei einigen Szenen fragt man sich, ob sie gerade wirklich noch an Bord oder nicht doch an einem anderen Ort gefilmt wurden. Und wenn das Bild lange Zeit auf einer sich exzessiv bewegenden Tänzerin am Ufer verharrt, ist das ein tolles optisches Motiv, ein Zusammenhang erschließt sich zunächst aber nicht. Der reine Fokus auf die Menschen lässt so bis zum Ende eine Lücke, die auch die oft faszinierenden Persönlichkeiten nicht ganz zu füllen vermögen.
Fazit: In „Sur l'Adamant“ kommt Nicolas Philibert den Menschen, die das psychiatrische Tageszentrum auf einem Schiff nutzen, ganz nahe. Es entstehen faszinierende Momentaufnahmen, bei denen aber auch unbefriedigende Leerstellen bleiben.
Wir haben „Sur l'Adamant“ im Rahmen der Berlinale 2023 gesehen, wo er in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.