Nicht nur Marvel und DC – auch Deutschland kann Multiversum!
Von Janick NoltingScience Fiction und die Schweiz: Kann sich das vertragen? Im Hamburg des Jahres 1974 zeigt man sich diesbezüglich noch skeptisch, als der Moderator einer Fernsehshow den Auftritt von Johannes Leinert (Jan Bülow) ankündigt. Leinert hat ein Buch geschrieben: „Die Theorie von allem”. Doch als der Autor in der Sendung auftritt, welche im Prolog dieses Films zu sehen ist, kommt es zum Eklat. Er scheint verwirrt zu sein, fühlt sich schon durch die Bezeichnung des Werkes als Roman missverstanden.
Karin solle sich bei ihm melden, egal wo sie sei, spricht er noch in die Kamera, bevor er das Studio verlässt. Das Geheimnis seines Verhaltens zu ergründen, dazu lädt Regisseur Timm Kröger („Zerrumpelt Herz") in seinem zweiten Langfilm ein. „Die Theorie von allem” führt in ein labyrinthisches Rätsel, über das man wunderbar staunen und sich im Anschluss noch lange den Kopf zerbrechen kann.
Als Johannes Karin trifft, fängt alles an.
Was in Johannes Leinerts Buch beschrieben wird, zeigt „Die Theorie von allem” in einer ausführlichen Rückblende: Im Jahr 1962 tritt Johannes gemeinsam mit seinem strengen Doktorvater (Hanns Zischler) eine Reise in die Schweizer Alpen an. In einem Hotel oben in den Bergen soll ein Physikerkongress stattfinden. Es geht um die Enthüllung einer bahnbrechenden Quantentheorie. Während Johannes bereits selbst über die Grenzbereiche der Physik nachdenkt, sich in für seine Umwelt abstrusen Theorien über sogenannte „Vielwelten”, also Multiversen, verliert, verliebt er sich in die Jazzpianistin Karin (Olivia Ross). Doch schon bald geschieht Seltsames im Hotel. Karin verschwindet spurlos und Johannes wittert eine große Verschwörung…
Timm Kröger webt in seiner wagemutigen Koproduktion aus Deutschland, Österreich und der Schweiz ein dichtes Geflecht aus Hinweisen, falschen Fährten und Mysterien. Im Hotel flackern die Lichter, unheimliche Männer in Ledermänteln und Hüten treiben ihr Unwesen, konspirative Treffen scheinen am Rande der Skipiste stattzufinden. Am Himmel wabern übersinnliche Wolkenformationen, in den Bergen poltert und rumort es. Kröger hat „Die Theorie von allem” dabei komplett in kontrastreichem Schwarz-Weiß inszeniert, was immer wieder für immense Schauwerte sorgt. Die Kameraarbeit von Roland Stuprich ist schlicht überragend! Am laufenden Band werden sensationelle Bilder aufgefahren, egal ob es um die beklemmenden Räume des Hotels, gewaltige Naturaufnahmen oder die Katakomben des Gebirges geht, in denen sich - so viel kann man noch vorwegnehmen - regelrecht Psychedelisches abspielen wird. Es lässt sich kaum noch rational erklären.
„Die Theorie von allem” ist dabei ein Mystery-Thriller, ein Krimi, ein Film Noir, ein Horrorfilm, ein psychologisches Drama, aber auch eine interessante Auseinandersetzung mit dem untoten 20. Jahrhundert geworden. Auch stilistisch scheint dieses kryptische Werk mit seinem langen Erzählatem, seinem dauerpräsenten Orchester-Score oder den verspielten Überblendungen aus einer anderen Zeit zu stammen. Man fühlt sich an die „Twilight Zone”, an Hitchcock, an Edgar-Wallace-Adaptionen oder in manchen Szenen an Orson Welles’ Kafka-Verfilmung „Der Prozess” erinnert. An dieser Stelle könnte sich eine Kritik allein damit begnügen, künstlerische Referenzen aufzuzählen, mit denen Timm Kröger arbeitet.
Letztlich wird dieses Aneignen ikonischer Motive, Sehgewohnheiten und Erzähltechniken nicht nur aus der historischen Verortung des Films heraus erklärbar. Sie verweisen zugleich auf eine Meta-Ebene, die sich sowohl auf spezifisch europäische Hintergründe als auch auf die Fiktion an sich bezieht. Man spielt mit alternativen Vorstellungen, verborgenen Wahrheiten: „Die Theorie von allem” beweist, wie man dem Multiversen-Trend im Kino wieder ein Faszinosum, etwas Nachdenkliches verleiht, nachdem ihn so mancher Superheldenfilm mittlerweile reichlich überstrapaziert hat.
Johannes und sein Doktorvater treffen einige kauzige Gestalten.
Kröger zeigt Lebensgefühle aus dem Kalten Krieg, in dem Misstrauen und Verfolgungswahn um sich greifen. Die atomare Angst schwebt über allem. Am Tisch spricht der kauzige Professor Blumberg (Gottfried Breitfuss) das berühmte Oppenheimer-Zitat vom „Zerstörer der Welten”. Im Gebirge wurde einst Uranerz abgebaut, wie der Protagonist irgendwann erfährt. Nun fürchtet man sich vor einer Freisetzung von radioaktiver Strahlung aus dem Innern der Landschaft. Ein Riss im Zeit-und-Raum-Kontinuum könnte sich dort aufgetan haben und die Ordnung der Welt aus den Angeln heben.
Doppelgänger-Motive werden ebenso angedeutet. Dubiose Ordnungshüter wollen Verbindungen zur DDR oder Sowjetunion aufdecken. Das Unbehagen, plötzlich ein anderer, also ausgetauscht zu sein, Spionage und anderen zwielichtigen Machenschaften zu erliegen, sowie das Entsetzen darüber, dass eine vertraute Person plötzlich ihre gewalttätige Seite offenbart, lassen in diesem Verwirrspiel die Welt mit anderen Augen sehen. Und natürlich brodelt der Faschismus weiter in Europa. Ein Kind zeigt gleich zu Beginn an der Hotelrezeption den Hitlergruß und kassiert dafür eine Schelle. Alte Verbindungen zum Nationalsozialismus werden angedeutet, Tote spuken in den Gedanken. Nur: Wer will davon etwas wissen?
„Die Theorie von allem” wird viele Menschen ordentlich vor den Kopf stoßen! Schließlich verlangt er seinem Publikum einiges an Geduld ab, um dem ausufernden, versponnenen Rätselraten zu folgen - ohne dafür mit klaren Antworten zu belohnen. Je konsequenter Kröger sich mit seinem Film in sinnbildliche Abgründe traut und einer Lösung näherzukommen scheint, desto mehr steht fest: Hier wird das meiste sowieso der Fantasie der Zuschauer*innen überlassen. Sind all die Mühen also vergeudete Zeit? Mitnichten! Man sollte gerade den letzten Akt, auf den alles zusteuert, nicht vorschnell verurteilen, denn Timm Kröger greift offensichtlich nach etwas Größerem.
Um den Konflikt zwischen Kunst und Wissenschaft geht es hier eigentlich. „Die Theorie von allem” ist ein Film über den Akt des Erzählens an sich und Kröger beschließt diesen Rahmen mit einem ergreifenden, von Dominik Graf als Erzähler im Konjunktiv vorgetragenem Epilog, in dem die Fiktion in der Fiktion gebrochen und der Werdegang des Protagonisten behandelt wird. Er hebt ihn auf eine neue Ebene. Im Kern zeigt er jemanden, der von der Welt (zu Unrecht?) verstoßen und abgestempelt wird. Wo der historische Ballast zu unübersichtlich und zu unbegreifbar scheint, um seinen vielfältigen Schrecken vollends durchdringen zu können, dort flüchtet man sich in abstraktere Theorien und stößt mit ihnen auf taube Ohren. Wo die Wissenschaft versagt, kann nur die Kunst helfen. Sie kann zu solchen geteilten Erfahrungen durchdringen, ihre Unbegreifbarkeit spürbar werden lassen und artikulieren.
Ist von den dubiosen Ordnungshütern Hilfe zu erwarten?
Dennoch ist das keineswegs ein rein verklärendes Plädoyer für jene Kunst! Ebenso wenig eines für Verschwörungstheorien. Timm Kröger spielt das eine nicht gegen das andere aus. Er versieht auch das Erzählen selbst mit einer treffenden, irritierenden Ambivalenz. Ist die Realität erst einmal in Form gebracht, reißt sie die Welt an sich. Sie kann sie wiederum verkehren oder ihren Horror mit albernen Happyends glattbügeln. „Die Theorie von allem” demonstriert das anhand an eines gewitzten Ausflugs in das italienische Kino. Oder aber man lernt, ihre unaufgelösten Spannungen auszuhalten, wie es dieser Film verlangt.
In einer Welt, in der Geschichte fortlaufend dahinstirbt oder aktiv verdrängt wird, bleibt dem tragischen Protagonisten nur das Festbeißen im Vergangenen. Wo alle Welt vergessen will, braucht es Gestalten, die auf dem Gestern beharren, um die Rückkehr dessen zu verhindern. Man mag sie Spinner, Esoteriker nennen. Johannes' gesellschaftliches Scheitern und Ausgestoßensein, das von Beginn an feststeht, ähnelt im selben Moment einem rebellischen Akt. Wenngleich er den Verlust der Gegenwart, den Verlust der realen Welt bedeutet. Eine Hinwendung zu den Gespenstern. In „Die Theorie von allem” ist sie schaurig und tröstlich zugleich.
Fazit: Timm Kröger hat mit „Die Theorie von allem” einen der bemerkenswertesten, schrägsten deutschsprachigen Genrefilme der letzten Jahre inszeniert. Ein im positiven Sinne frustrierendes, überwältigendes und bildgewaltiges Mystery-Rätsel gegen das Verdrängen.
Wir haben „Die Theorie von allem“ beim Filmfestival Venedig 2023 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.