An Weihnachten geht die Welt unter!
Von Karin Jirsak„Als eure Eltern wollen wir nur sichergehen, dass ihr versteht, dass es nicht unsere Schuld ist“, gibt die Mutter ihren Kindern am Weihnachtsabend noch schnell mit auf den Weg, bevor alles zu spät ist. Die Rede ist von einem sich annähernden Desaster, das zu spoilern wir lieber den anderen überlassen. Verraten sei deshalb nur, dass die ziemlich abgedrehte Prämisse des Langfilmdebüts von Camille Griffin im Kern näher an der Realität liegt, als man wohl anfangs vermuten würde. Unter diesem Damoklesschwert entwickelt sich in „Silent Night“ ein ebenso tiefschwarzhumoriges wie beklemmendes „Was wäre wenn“-Kammerspiel, das weit über seine fiktionalen Konfliktlinien hinausweist – mitten hinein in den ganz großen Generationenkonflikt unserer Zeit.
So ist der bitterböse „Silent Night“, der seine Deutschlandpremiere als Abschlussfilm beim Fantasy Filmfest 2021 feiert, zwar einerseits ein extrem unterhaltsamer Antiweihnachtsfilm – auf der anderen Seite aber eben auch ein ernstes und deutliches „Wie könnt ihr es wagen!“ in Richtung aller sogenannten Erwachsenen, die mit gelebter Nach-uns-die-Sintflut-Attitüde die Zukunft der folgenden Generationen aufs Spiel setzen.
Selbst kurz vor dem Ende bestehen die Eltern darauf, dass sie ja nun wirklich keine Schuld tragen...
Es soll ein „Fest der Liebe und der Wahrheit“ werden, doch die Nerven liegen blank. Darüber kann auch das klebrige Lächeln von Gastgeberin Nell (Keira Knightley) nicht hinwegtäuschen. Spätestens beim Tischgebet wird klar, dass beim Weihnachtfest mit den alten Schulfreund*innen nebst Anhang sehr viel mehr im Argen liegt als der vergessene Sticky Toffee Pudding: Niemand wird dieses Fest überleben, das steht leider fest. Wie man im Angesicht der düsteren Aussichten den Abend im englischen Landhaus gestalten soll – (nicht nur) darüber sind die Anwesenden (u. a. Lily-Rose Depp, Lucy Punch) geteilter Meinung. Und so wird gestritten, geflucht und gebechert, während still und leise das Grauen herannaht…
„Remember my name! I’m gonna live forever, I’m gonna learn how to fly…“ Der Soundtrack passt zum fröhlichen Untergang, die eben noch zankende Mischpoke rockt sich unter dem Weihnachtsbaum zu Irene Caras 80er-Hit „Fame“ die Seele aus dem Leib. Berühmt wird hier allerdings niemand mehr, denn schon in wenigen Stunden soll alles vorbei sein, also hoch die Tassen! Kurz bevor die Party sich auf diese Weise rockig bahnbrechen konnte, hat die kleine Kitty (Davida McKenzie) ihrer Mutter (Annabelle Wallis, „Malignant“) noch die Umarmung unterm Christbaum verweigert. Der Vorwurf des Mädchens: In Form von Designer-Pailettenpumps funkelt das für die Ausbildung der Tochter Ersparte jetzt an Mommys Füßen. Deren Rechtfertigung: „Du brauchst es ja nicht mehr…“ Leider wahr. Aber sind Verdrängung und Dekadenz wirklich die richtige Antwort auf das, was da nun kommen soll?
(K)ein ganz normales Weihnachtsfest!
Regisseurin Camille Griffin, die auch das Drehbuch schrieb, gibt eine klare Antwort. Dazu stellt sie die jugendlichen Protagonist*innen in den Fokus und nimmt ihre Perspektive ein, und das ist durchaus ein programmatischer Akt. Während die Erwachsenen sich betrinken und darüber zoffen, wer damals mit wem geschlafen hat, sind es die Kinder, die hier die wichtigen Fragen stellen: Wer ist schuld an dem kommenden Desaster? Wie sieht moralisches Verhalten im Angesicht der Katastrophe aus? Und ist wirklich alles hoffnungslos verloren?
Es ist vor allem Art, der älteste Sohn von Simon (Matthew Goode) und Nell, der sich traut, die Dinge anzusprechen, über die an diesem letzten Abend niemand sprechen will. Gespielt wird der Junge von vom ältesten Sohn der Regisseurin, „Jojo Rabbit“-Star Roman Griffin Davis. Zusammen mit seinen beiden jüngeren Brüdern, den Zwillingen Hardy und Gilby, die ihm auch schon in „Jojo“ zur Seite standen, verkörpert das Jungtalent die blitzgescheite Brut der Gastgeberfamilie – und das mit solcher Präsenz und Pfiffigkeit, dass selbst ein Brit-Star wie Keira Knightley („Fluch der Karibik“) hier nur die zweite Geige spielen kann – und auch das gelingt ihr ziemlich gut.
Fazit: Jüngstes Gericht am Heiligen Abend: Das bitterböse „Was-wäre-wenn“-Kammerspiel von Camille Griffin lässt die Generation „Fridays For Future“ unterm Tannenbaum mit der Dekadenz ihrer Eltern kollidieren – und das ist tatsächlich ein (dunkelschwarzhumoriges) Fest!
„Silent Night“ läuft in Deutschland als erstes als Abschlussfilm auf dem Fantasy Filmfest.