The World To Come ist eine Verfilmung einer Kurzgeschichte gleichen Namens von Jim Shepard. Da er mitverantwortlich für das Drehbuch war, hält der Film sich auch eng an die literarische Vorlage. Es ist typisch für seine Werke, dass sie oft aus der Perspektive der ersten oder zweiten Person geschildert werden, The World To Come ist da keine Ausnahme. Und so sind die Tagebucheinträge der Protagonistin Abigail der äußere Rahmen, in dem sich die Geschichte bewegt. Über den ganzen Film hinweg "liest" sie dem Zuschauer aus ihrem Tagebuch vor, und auch detaillierte Datumsangaben fehlen nicht.
Die Erzählung beginnt am 1. Januar des Jahres 1856, Abigail und ihr Mann Dyer haben vor wenigen Monaten ihre vierjährige Tochter durch Dyphterie verloren. Es gelingt ihnen mehr schlecht als recht, sich von diesem Kummer durch Arbeit abzulenken. Dabei gibt es davon mehr als genug, eigentlich ist es das einzige, was ihr Leben ausmacht. Dieses eintönige, einsame, harte, karge Leben auf einer abgeschiedenen Farm in New Yorks Hinterland, angefüllt mit Pflichten und notwendigen Aufgaben und nur wenigen Freuden. Keiner der beiden hat dieses Leben gewollt oder findet darin Erfüllung. Dazu kommt, dass die Ehe der beiden keine Liebesheirat war, sondern einfach aus den Umständen und fehlenden Optionen heraus entstanden ist, wie das früher so oft üblich war.
Anfang Februar zieht ein neues Paar in die Nachbarsfarm, Tallie und Finney. Die beiden Frauen freunden sich sogleich an, immer enger wird ihre Freundschaft. Die schüchterne, in sich gekehrte Abigail ist verwirrt darüber, wie sehr sie die Gesellschaft von Tallie genießt, und obwohl sie eine talentierte, wortgewandte Schreiberin ist, findet sie zunächst keine Bezeichnung für ihr Gefühlschaos. Der Film lässt sich Zeit für die Entwicklung der Geschichte der beiden und macht es dem Zuschauer einfach, die Beziehung der beiden nachzuvollziehen. Viele lange Einstellungen beherrschen das Bild, auf hektische Schnitte wird verzichtet.
Es dauert bis Ende April und bis zur fünfzigsten Minute des Films, bis die Liebe der beiden Frauen sich, endlich, muss man fast sagen, in einem Kuss Bahn bricht. Das ist die wohl schönste Szene im gesamten Streifen, wunderbar zärtlich arrangiert. Phänomenal gespielt. Man spürt das Zögern der beiden, sich ihre Liebe einzugestehen und den für diese Zeit oft undenkbaren letzten Schritt, weg von der Freundschaft in eine neue Phase hinein, zu gehen. Inklusive geröteter Wangen, dem inneren Aufruhr geschuldet. Dann der Ausbruch von grenzenloser Glückseligkeit, wer kennt es nicht? Wirklich großartig!
Besonders das subtile Spiel von Vanessa Kirby (Tallie) hat mir sehr imponiert. Was sie nur mit wenigen Mimiken auszusagen vermag, ist beeindruckend. Ein angedeutetes Lächeln, ein leichtes Zucken um die Mundwinkel, ein Augenaufschlag, und man sieht direkt in ihr Innerstes. Da die Geschichte fast komplett aus der Sicht von Abigail erzählt wird, ist es oft das einzige, was uns bleibt.
Auch optisch und filmtechnisch unterstützt Regisseurin Mona Fastvold die aufkeimende Liebe. Während sie zu Anfang mit der Farbe geizt, sind die Farben nach dem Kuss satter, ein geschicktes Stilmittel.
Dyer, eigentlich im Großen und Ganzen ein anständiger Kerl, bemerkt natürlich die Veränderungen an seiner Frau. Ob er die Beziehung der beiden akzeptiert oder ignoriert oder sich in der damaligen Zeit einfach nicht vorstellen kann, dass es eine Liebesbeziehung zwischen zwei Frauen geben kann, sei dahingestellt. Finney hingegen, ein bibelfester Mann, kann und will nicht hinnehmen, dass seine Frau nicht zuallererst ihm untersteht und ihm ihr Leben in voller Gänze widmet.
Und es wäre vermutlich keine Darstellung einer gleichgeschlechtlichen Liebe in einer historischen Erzählung, wenn den beiden Frauen ein Happyend beschieden wäre und so kommt es, wie es kommen muss
Der Film hat mich noch mehrere Tage beschäftigt und man fragt sich unwillkürlich, wie das Leben der beiden Frauen wohl ausgesehen hätte, wenn sie nicht in dieser Isolation in ihrer Zeit festgesteckt hätten. Ob die introvertierte Abigail eine Karriere als Schriftstellerin gemacht hätte. Und ob die lebensfrohe, nach Freiheit strebende und selbstbewusste Tallie in unserer Zeit glücklicher geworden wäre.
Es ist noch lange nicht alles gut als Frau in unserer Welt, aber wir sind dennoch schon weit gekommen...