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    Lieber Kurt
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Lieber Kurt

    Weniger Barefoot, mehr Living

    Von Christoph Petersen

    Die Zeiten von Til Schweiger als Regisseur narrensicherer Kassenschlager sind vorüber. Während er mit Megahits wie „Keinohrhasen“ (6,2 Millionen Besucher*innen in 2007) oder „Honig im Kopf“ (7,3 Millionen Besucher*innen in 2014) noch schier unfassbare Massen in die Säle lockte, legten einige seiner Filme zuletzt regelrechte Bruchlandungen hin: Während man sich die miserablen Zahlen für sein US-Remake „Honey In The Head“ noch damit erklären konnte, dass das deutsche Publikum eben lieber Dieter Hallervorden als Nick Nolte in der Rolle des demenzkranken Großvaters sehen will, waren die 74.000 Besucher*innen für die fehlgeleitete Psychiatrie-Schmonzette „Die Rettung der uns bekannten Welt“ im November 2021 – Corona-Beschränkungen hin oder her – schlichtweg inakzeptabel. Aber woher kommt der stetige und zuletzt schwindelerregend-rasante Publikumsschwund?

    Til Schweiger hat sich in den vergangenen Jahren immer weiter in die kitschige Kunstwelt seiner eigenen Livestyle-Marke Barefoot Living zurückgezogen. Seine Filme wurden zu mit Popsülze zugekleisterten Werbefilmen, in denen alle Wohnungen mit derselben Barefoot-Einrichtung zugestellt waren und sowieso alles so lebensfremd wirkte wie die Hochglanzseiten eines Möbelhaus-Katalogs. Kein Wunder also, dass da irgendwann auch diejenigen die Segel strichen, die ihm und seinem unverwechselbaren Regiestil zuvor noch die Treue gehalten haben. Til Schweigers große Stärke als Regisseur ist, dass er, wohl auch aufgrund seines Egos, keinerlei Angst zu haben scheint – nicht vor großen Gefühlen, nicht vor großen Gesten, nicht vor großen Bildern. Das Problem ist nur: Wenn wie in „Die Rettung der uns bekannten Welt“ schon der Kern ein verlogenes Nichts ist, kann auch die auf ein leinwandüberfüllendes Format aufgeblasene Version nichts taugen.

    Aber genau da kommen nun zwei Frauen und ein halbverfallenes Haus irgendwo in Brandenburg ins Spiel – denn das Trio lenkt nicht nur die fraglos vorhandenen Talente des Regisseurs endlich wieder in weniger fehlgeleitete Bahnen, sondern ist auch hauptverantwortlich dafür, dass aus der Bestseller-Adaption „Lieber Kurt“ der beste Til-Schweiger-Film seit eineinhalb Jahrzehnten geworden ist…

    Til Schweiger liefert als Kurt (hier mit Peter Simonischek) eine seiner wohl besten Performances überhaupt – selbst wenn er ganz zum Schluss im Epilog doch wieder der gewohnt-coole Hecht sein darf.

    Marketing-Experte Kurt (Til Schweiger) und seine Freundin Lena (Franziska Machens), eigentlich Großstadtmenschen durch und durch, ziehen ins ländliche Brandenburg – und zwar in ein halbverfallenes, mit dem hässlichsten Badezimmer der Welt ausgestattetes, aber darüber hinaus vielversprechend-pittoreskes Haus, das sie die nächsten Monate (und vielleicht auch Jahre) erst einmal mit ihren eigenen Händen renovieren müssen. Dabei hilft auch der „kleine Kurt“ (Levi Wolter), Kurts sechsjähriger Sohn, dessen Sorgerecht er sich mit seiner Ex-Frau und Noch-Chefin Jana (Jasmin Gerat) teilt. Quasi der siebte Patchwork-Himmel irgendwo im Grünen vor den Toren Berlins.

    Aber dann stirbt der kleine Kurt bei einem Sturz vom Klettergerüst in der Schule. Während es natürlich vollkommen normal ist, dass der erwachsene Kurt erst einmal vollkommen zusammenbricht, weiß Lena nicht, wie sie sich in der Situation „richtig“ verhalten soll. Darf sie genauso trauern wie ihr Lebenspartner, selbst wenn sie nicht die leibliche Mutter des toten Kindes ist? Oder ist es nicht vielmehr ihre Aufgabe, nun für den erwachsenen Kurt da zu sein und ihre eigene Trauer für ihn zurückzuhalten? Es ist ausgerechnet Wolfgang (Peter Simonischek), der Vater ihres Lebenspartners, der Lena bei der Beerdigung den Rat gibt, auch auf sich selbst zu hören. Denn ansonsten hat die Trauer die Kraft, alles zu verschlingen…

    Endlich wieder sowas wie echtes Leben

    Ja, es gibt auch in „Lieber Kurt“ wieder so viele Einstellungen von Sonnenuntergängen, dass selbst der Lense-Flare-Großmeister J.J. Abrams vor Neid erblassen würde. Dazu kommen dauernd Szenen, die unmotiviert in katalogmotivtauglichen Kornfeldern spielen – und Kurts Schulklasse wirkt ebenfalls wie für ein Kinder-Modeshooting zusammengecastet. Wer auf solche Schweiger‘schen Stilmittel (mittlerweile) allergisch reagiert, wird auch an „Lieber Kurt“ sehr wahrscheinlich keine Freude haben. Aber durch die Ritzen des Hochglanz-Looks quirlt diesmal endlich auch wieder „echtes“ Leben in den Film hinein – und das fängt schon beim Schauplatz an: Da das Haus halbverfallen ist und das Paar ja gerade erst einzieht, hätte es nun wirklich gar keinen Sinn gemacht, es als weitere Barefoot-Living-Vorhölle auszustatten (erst im letzten Drittel tauchen nach und nach ein paar entsprechende Möbelstücke im Hintergrund auf).

    Aber noch viel wichtiger als das Setting ist die Vorlage: In ihrem vierten Roman „Kurt“ brilliert Moderatorin und Bestsellerautorin Sarah Kuttner mit ganz feinen, schmerzhaft-ehrlichen Beobachtungen. Auf den ersten Seiten, als noch alles gut ist, schildert sie aus der Sicht von Lena, wie schwierig es Freundin des Vaters mitunter schon im Alltag sein kann, den angemessenen Umgang mit dem kleinen Kurt zu finden – etwa bei der Frage, ob sie beim Aufstehen vor dem Sechsjährigen kurz ihren nackten Hintern zeigen darf oder ob nicht. Nach dem Unfall potenzieren sich diese Fragen nach dem „richtigen“ Verhalten natürlich ins Unermessliche – und trotzdem schielt Kuttner nie auf den großen Effekt. Genau das kann man von einem Til-Schweiger-Film nun natürlich nicht erwarten – und doch bleiben von den vielen kleinen Weisheiten und Denkanstößen, die weit über das in Trauergeschichten oft vorherrschende Kalenderspruchniveau hinausgehen, noch genügend übrig. Auch in „Lieber Kurt“ bleibt die ungewöhnliche Perspektive aus der Sicht einer Halb-Außenstehenden auf die Trauer-Situation absolut faszinierend.

    Ganz ohne den absolut unverkennbaren Barefoot-Living-Look geht es natürlich auch in „Lieber Kurt“ nicht…

    Das hängt auf der einen Seite durchaus mit Schweigers Inszenierung zusammen: Wenn Lena durch die halb geöffnete Tür ins Zimmer schaut, in dem ihr Freund und seine Ex gerade mit dem Bestatter zusammensitzen, um die Formalitäten der Beerdigung zu besprechen, dann ist eigentlich schon durch die geschickte Wahl des Bildausschnitts alles Nötige über die Figuren und ihre Situation gesagt. Noch mehr hat es allerdings mit Kino-Newcomerin Franziska Machens, seit 2013 festes Ensemblemitglied am Deutschen Theater Berlin, zu tun. Schweiger castet oft wahnsinnig spannende Schauspielerinnen abseits der üblichen Verdächtigen an seiner Seite – nur gibt er ihnen dann, wie zuletzt etwa Bettina Lamprecht in „Die Rettung der uns bekannten Welt“, schrecklich wenig zu tun. Aber bei Franziska Machens ist das nun zum Glück anders …

    … schließlich sind schon ihre abwartend-vorfreudigen, schelmisch-kommentierenden Blicke, wenn der kleine Kurt den großen Kurt nach seinem geschrumpften Kondomvorrat ausfragt, absolut unbezahlbar. Aber auch sonst setzt sie sich mit ihrer entwaffnend-ehrlichen Natürlichkeit – ob nun beim Einbumsen aller Räume des Hauses oder beim verzweifelten Versuch, doch irgendwie an ihren in seiner Trauer gefangenen Freund heranzukommen – konsequent gegen die ansonsten an der Oberfläche zu verharren drohenden Hochglanzbilder durch. An ihrer Seite liefert auch Til Schweiger trotz eines unfreiwillig komischen Robinson-Crusoe-Gedächtnisbarts eine seiner stärksten Leistungen – bis hin zum totalen Zusammenbruch und einer erstaunlich konsequent-brutal gefilmten Kneipenschlägerei.

    Fazit: „Lieber Kurt“ ist Til Schweigers bester Film seit 15 Jahren. Jetzt wird sich zeigen, ob ihm sein (ehemaliges) Publikum nach Totalaussetzern wie „Head Full Of Honey“ oder „Die Rettung der uns bekannten Welt“ noch einmal eine Chance gibt…

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