Starker Ermittler, schwacher Fall
Von Christoph PetersenWie den Privatdetektiv Sherlock Holmes erkennt man auch den Kommissar Jules Maigret bereits an seinem Mantel und seiner Pfeife. Im Gegensatz zu seinem Londoner Kollegen löst der Pariser Ermittler seine Fälle aber nicht mit kühler Analytik, sondern mit warmer Empathie (übrigens nicht nur für die Opfer, sondern oft auch für die Täter*innen). In Deutschland zwar längst nicht so bekannt wie die Geschichten von Arthur Conan Doyle, wurden die 75 (!) zwischen 1931 und 1972 erschienenen Maigret-Romane des belgischen Schriftstellers Georges Simenon bereits Dutzende Male verfilmt – darunter allein neun Mal als Fernsehserie mit insgesamt mehr als 200 Episoden. Zu den bekanntesten Maigret-Darstellern zählt neben klassischen Stars wie Charles Laughton, Jean Gabin oder Heinz Rühmann auch das „Mr. Bean“-Mastermind Rowan Atkinson, der den Kommissar ab 2016 in vier Fernsehfilmen verkörperte.
Nun folgt also auch noch Gerard Depardieu („Der Geschmack der kleinen Dinge“). Der ist mit seinen 73 Jahren zwar viel älter als die meisten seiner Vorgänger, aber er reichert die ohnehin sehr einfühlsame Figur so noch mit einer lebensklugen Melancholie an, die tatsächlich zu Herzen geht. So überzeugt Patrice Lecontes schlicht „Maigret“ betitelter Kino-Krimi, der sehr lose auf dem Roman „Maigret und die junge Tote“ basiert, vor allem in jenen kurzen Momenten, in denen der Ermittler ganz für sich ist – von einer herausstürmenden Zeugin allein im Restaurant zurückgelassen oder bei dem angesichts seines Bauchumfangs beschwerlichen Aufstiegs in den sechsten Stock zum Zimmer des Mordopfers. Der im Zentrum stehende Fall ist hingegen eine herbe Enttäuschung, da hier weder Spannung aufkommt noch die psychologische Tiefe erreicht wird, für die die „Maigret“-Stoffe eigentlich berühmt sind.
Maigret (Gérard Depardieu) mit einer Lupe ist ein seltener Anblick – denn in der Regel löst der Kommissar seine Fälle mit purem Einfühlungsvermögen statt mit klassischen Ermittlungsmethoden.
Paris, in den 1950er Jahren: Als eines Nachts eine tote junge Frau, auf die offenbar mehrfach eingestochen wurde, in einem blutverschmierten Kleid gefunden wird, nimmt sich Kommissar Maigret (Gérard Depardieu) des Falls an. Statt sich zu überlegen, wer denn wohl der Täter oder die Täterin sein könnte, konzentriert er sich zunächst darauf, möglichst viel über das Mädchen und ihre persönliche Geschichte herauszufinden.
Im Gegensatz zu dem Ermittler hat das Publikum des Films allerdings bereits gesehen, wie sich die Tote (Clara Antoons) zuvor ganz schüchtern das Kleid von einem Haute-Couture-Verleih ausgeborgt hat, um damit einen vornehmen Verlobungsempfang zu besuchen – wo sie allerdings augenblicklich von den Gastgeber*innen, der Schauspielerin Jeanine Arménieu (Mélanie Bernier) und dem Unternehmersohn Laurent Clermont-Valois (Pierre Moure), unsanft wieder herausbefördert wurde…
Wenn Maigret eine Ermittlung erst mal mit Weißwein angefangen hat, dann bleibt er bis zu ihrem Abschluss auch bei Weißwein. Es gibt zwar auch Bier-Fälle, aber dies sei eben ein Weißwein-Fall und mittendrin wird nicht gewechselt. Trotz seiner Insichgekehrtheit, die man nicht mit Resignation verwechseln sollte, sondern vor allem vom Wissen um die Traurigkeit dieser Welt zeugt, sichert sich Maigret allein mit solchen Bonmots schnell einen Platz in den Herzen des Publikums. Sowieso hat der Film einen zwar betont zurückgenommenen, aber dafür auch sehr feinen Humor – wenn sich etwa ganz beiläufig herauskristallisiert, dass Maigret zwar schon mit seinem Gewicht zu kämpfen hat, aber er den ganzen Film über keinen Bissen zu sich nimmt, sondern aus den verschiedensten Gründen jedes Mal ablehnt, wenn ihm jemand etwas zu Essen anbietet.
Wenn er sich die Wendeltreppe in den sechsten Stock hochschleppt, dann lastet nicht nur das Zuviel an Kilos, sondern das Gewicht der ganzen Welt auf seinen Schultern – ein Zustand, den er mit einer vollkommen unerschütterlichen Melancholie erträgt. Maigret löst seine Fälle, weil er jeden erst einmal versteht – ganz egal, ob gut oder böse. So ist das auch am Ende des neuen Films, wobei wir mit dem Täter bzw. der Täterin zuvor kaum Zeit verbracht haben – und so fragt man sich als Zuschauender an der Stelle fast zwangsläufig: Aber warum jetzt eigentlich dieses tiefe Verständnis? Und wie hat der (auch aus vielen anderen Krimi-Geschichten bekannte) Trick des Ermittlers in diesem Fall eigentlich genau funktioniert? Wirklich Sinn ergibt das alles jedenfalls nicht…
Maigret ist so fasziniert von der traurigen Toten, dass er alles über ihr bisheriges Leben herauszufinden versucht.
Es ist die enttäuschende Auflösung zu einer enttäuschenden Ermittlungsarbeit: Zeug*innen über Zeug*innen werden da befragt, bis die Kamera von Yves Angelo („Bis an die Grenze“) schon ganz nervös zu zucken beginnt, um zumindest ein klein wenig Bewegung in die allzu statischen Szenerien zu bringen. Im Vergleich dazu ist selbst mancher Durchschnitts-„Tatort“ ein Actionfest. Auch aus dem Fünfzigerjahre-Setting wird abgesehen von einem kleinen Abstecher in die historische Pariser Notrufzentrale wenig herausgeholt – und bei einer die moralischen Grenzen sprengenden Ménage-à-trois bleibt die Kamera lieber gleich bei Maigret, der draußen im Auto wartet.
Abgesehen von den merkwürdigen Kamera-Zuckungen und einigen gelungenen Retro-Spielereien mit Licht und Schatten, wenn etwa das blutverschmierte Kleid des Opfers an einem Kleiderbügel aus dem Schwarz eines Ganges in den Vordergrund hineingetragen wird, als würde dort der Geist der Toten noch einmal auf der Bildfläche erscheinen, ist die Inszenierung von Patrice Leconte („Nur eine Stunde Ruhe!“) maximal zweckdienlich. In Zeiten, in denen das Kriminalgenre abgesehen von solchen stargespickten Schauwert-Spektakeln wie „Mord im Orientexpress“ oder „Tod auf dem Nil“ ohnehin weitestgehend ins Fernsehen abgewandert ist, fragt man sich da schon, warum ausgerechnet ein seltengewordener Kino-Krimi wie „Maigret“ nun dermaßen geschwätzig ausfallen muss…
Fazit: Gérard Depardieu ist ein toller Kommissar Maigret! Aber sein Fall wird diesmal so gleichtönig und geschwätzig abgehandelt, dass bei den Ermittlungen einfach keine Spannung aufkommen will.
Wir haben „Maigret“ im Rahmen der Französischen Filmwoche 2022 gesehen.