Bei der Oscar-Verleihung 1939 überreichte Kinderstar Shirley Temple einen ganz besonderen Preis an Walt Disney. Für den ersten amerikanischen Trickfilm in Spielfilmlänge erhielt der Vater von Micky Maus und Donald Duck eine normal große Statue und sieben Mini-Oscars auf einem Sockel. Mit dieser originellen Auszeichnung würdigte die Academy eine wahre Pionierleistung und einen phänomenalen Erfolg: „Schneewittchen und die sieben Zwerge“. Als Disney 1934 den Entschluss fasste, ein abendfüllendes Zeichentrickmärchen zu produzieren, war die Skepsis in der Branche groß. Bis zur Premiere im Dezember 1937 galt es für Disney und sein Team um den überwachenden Regisseur David Hand bei ständig steigenden Kosten unzählige Probleme zu lösen. Doch das Risiko hat sich sowohl künstlerisch als auch geschäftlich bezahlt gemacht: „Schneewittchen“ ist ein Meilenstein der Filmgeschichte, der auch heute noch bezaubert, und sein Erfolg bildete das Fundament eines einzigartigen Unterhaltungsimperiums.
Es war einmal eine liebliche kleine Prinzessin namens Schneewittchen. Ihre böse Stiefmutter ließ sie in Lumpen hüllen und als Magd schuften, weil sie fürchtete, dass das Mädchen eines Tages schöner sein könnte als sie selbst. Als diese Befürchtung der eitlen Königin durch ihren magischen Spiegel als wahr bestätigt wird, beauftragt sie einen Jäger, Schneewittchen im Wald zu töten. Doch der bringt den Mord nicht übers Herz und lässt das Mädchen entkommen. Schneewittchen entdeckt auf einer Lichtung ein leer stehendes Haus, in dem sie gemeinsam mit den Tieren des Waldes für Ordnung und Sauberkeit sorgt. Als die sieben Zwerge von der Arbeit heimkehren, sind sie von ihrem Hausgast schnell entzückt und nehmen Schneewittchen bei sich auf. Als die Königin erfährt, dass ihre Stieftochter noch lebt, ist sie außer sich: Mit Zauberkräften verwandelt sie sich in eine Hexe und macht sich auf den Weg in den Wald, um die böse Tat mit Hilfe eines giftigen Apfels selbst zu vollenden. Die vermeintlich tote Schneewittchen wird erst nach langer Zeit vom Prinzen wachgeküsst. Und wenn sie nicht gestorben sind...
Die Handlung folgt im Groben der Überlieferung der Brüder Grimm, allerdings mit einigen signifikanten Abweichungen. Walt Disneys berühmtes Gespür für den Publikumsgeschmack und sein gezielter Einsatz technischer Neuerungen führten zu jener Mischung von Märchenhaftem, Gruseligem, Lustigem und Gefühlvollen, für die der längst zur Marke gewordene Name des visionären Produzenten bis heute steht.
Da die Zeichentechniken für die überzeugend realistische Gestaltung menschlicher Ausdrucksnuancen in Gestik und Mimik noch nicht ausgereift waren, wurde die Rolle des Prinzen auf ein Minimum reduziert und bei den gegenüber der Märchenvorlage deutlich aufgewerteten Zwergen sowie bei der bösen Königin setzten die Animateure auf eine klare Stilisierung. Hier und bei der Gestaltung der niedlichen Hasen, Hörnchen und anderen Tiere (ein besonderer Clou ist die Sisyphus-Schildkröte, die trotz größter Anstrengungen immer zu spät dran ist) konnten die Animateure ihre in kurzen Cartoons wie dem berühmten „Die drei kleinen Schweinchen“ bereits zu einiger Meisterschaft gereiften Talente zur Geltung bringen.
Mit ihren Knubbelnasen, den Zipfelmützen und den Rauschebärten erhielten die Zwerge einen originellen Look, bis zuletzt wurde an Details gefeilt, um ihnen Lebendigkeit zu verleihen. Jeder einzelne der kleinen Wichte erhielt zudem individuelle Züge, die sich auch an seinem Namen ablesen lassen: Hatschi (im Original: Sneezy) hat Heuschnupfen und muss oft im ungünstigsten Moment mit gewaltiger Kraft niesen, Happy ist immer fröhlich, während Brummbär (Grumpy) ständig schlecht gelaunt ist. Besondere Aufmerksamkeit bekam der etwas tollpatschige Seppl (Dopey) mit seinen Segelohren, der - obwohl er als einziger nicht spricht - schnell alle Sympathien auf sich vereint. Die unterschiedlichen Temperamente werden fantasievoll zur Geltung gebracht - Abwechslung ist eben Trumpf.
Während das Trickfilm-Publikum in den 30er Jahren an Tiere mit menschlichen Eigenschaften bereits gewohnt war, konnte niemand mit Bestimmtheit sagen, ob Szenen wie die erst im letzten Moment abgebrochene Ermordung Schneewittchens und ihre Flucht durch den unheimlichen Wald funktionieren würden. Disney hingegen war überzeugt, dass die Zuschauer um das Leben einer Zeichentrickfigur bangen und wie gewünscht mitfiebern würden. Und er behielt Recht, alle Realismus-Diskussionen erwiesen sich schnell als hinfällig, die angesprochenen Sequenzen führten sogar dazu, dass der Film in Großbritannien nur eingeschränkt für Kinder freigegeben wurde. Die an die Ästhetik des expressionistischen Stummfilms angelehnte Gestaltung des düsteren Walds, in dem sich Baumstümpfe in Krokodile verwandeln, Äste wie Greifarme wirken und unheimlicher Schattenwurf für Schrecken sorgt, ist ein atmosphärisches Glanzstück des Films.
Neben diesen spannungsvollen Passagen bleiben vor allem komische Glanzlichter wie der von den Zwergen musizierte „Silly Song“ und das fröhliche Räumen und Putzen, bei dem Schneewittchen von den Tieren des Waldes unterstützt wird, in Erinnerung. Diese Sequenz zu dem Song „Whistle While You Work“ („Wer bei der Arbeit pfeift“) ist übrigens das unverkennbare Vorbild für das „Fröhliche Aufräumlied“ in Disneys Verwünscht. Während die schwungvollen Lieder, zu denen natürlich auch das berühmte „Hei Ho“ der Zwerge gehört, auch heute noch mitreißen, ist der in der Entstehungszeit populäre operettenhafte Stil der romantischen Nummern nur etwas für Nostalgiker. Optisch dagegen ist „Schneewittchen“ ein reines Vergnügen, die Entscheidung in Multiplan-Technicolor zu drehen, erwies sich als goldrichtig. Aus Angst, die noch nicht an das Kino in Farbe gewöhnten Zuschauer mit allzu Grellem zu verschrecken, wurden vorwiegend gedämpfte Farbtöne eingesetzt. Das gibt dem Film ein besonders schönes Gepräge, das zugleich altmodisch und einzig angemessen wirkt. Und mit den übereinandergelegten Mehrfachebenen zur Staffelung des Bildes wurden punktuell erstaunliche plastische Wirkungen erzielt.
„Schneewittchen“ erwies sich auch bei zahlreichen Wiederaufführungen immer wieder als heißgeliebter Kassenschlager und Maßstäbe setzendes Musterbeispiel, denn die technischen Innovationen gehen Hand in Hand mit einer beachtlichen emotionalen Tiefe. Bereits in der ersten Viertelstunde wird das Publikum auf eine regelrechte Achterbahnfahrt wechselnder Stimmungen geschickt - Romanze, Gefahr und Idyll wechseln einander in irrem Tempo ab. Auch wenn dabei von ausgewogener Dramaturgie kaum die Rede sein kann, bietet „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ auch nach über siebzig Jahren noch gelungene Familienunterhaltung. Walt Disney hat seine ureigene Art des Geschichtenerzählens inhaltlich und technisch mit Filmen wie „Pinocchio“, „Fantasia“, „Bambi“ und Dumbo noch perfektioniert, dennoch bleibt sein erster Langfilm etwas Besonderes, denn er markiert die Geburtsstunde einer bis heute lebendigen Erzähltradition. So ist „Schneewittchen“ gleichsam die Mutter aller Zeichentrickmärchen.