In dem Film „Contra“ wird die marokkanischstämmige muslimische Studienanfängerin Naima Hamid an der Frankfurter Goethe Universität von dem Juraprofessor Richard Pohl während einer Vorlesung rassistisch beleidigt. Durch die sozialen Medien verbreiten sich die Szenen per Video rasant, so dass die Universität gezwungen ist ein Disziplinarverfahren einzuleiten. Prof. Pohl ist jedoch mit dem Universitätspräsidenten Prof. Lambrecht befreundet. Dieser schlägt vor, dass Pohl die Studentin für einen bundesweiten Debattierwettbewerb trainiert, damit dessen Aussichten auf einen positiven Ausgang des Disziplinarverfahrens sich verbessern.
Das Sujet des Films erinnert an den US-amerikanischen Film „The Great Debaters – Die Macht der Worte“, wo ebenfalls eine Studentin darauf trainiert wird an landesweiten Debattierwettbewerben teilzunehmen. Gleichwohl es bei „The Great Debaters“ um die Rassentrennung in den USA der 50er Jahre geht, in Form von Mord- und Totschlag an der schwarzen Bevölkerung und dem Verbot überhaupt zu studieren, gibt es eine gewisse Verbindung zu „Contra“, denn auch wenn Naima Hamid nicht schwarz ist und vom mörderischen Rassismus bedroht ist, wie in der Zeit der amerikanischen Rassentrennung, und auch wenn sie studieren darf, steht sie als Nachkommin in der historischen Line von rassistisch Diskriminierten, die heute nicht mehr jeden Tag vom Tode bedroht sind, sondern eher in Form von sozialen Schranken vorhanden ist. Die Basis der Gemeinsamkeiten spiegelt sich in der Frage wider, wie es einer Person mit Migrationshintergrund ergeht, nachdem die historische Rassentrennung seit Jahrzehnten beendet wurde und keine farbige Ethnie mehr anders vor dem Gesetzt behandelt werden darf, als ein weißer Mensch.
In den 70 Jahren nach der Aufhebung der Rassentrennung in den USA hat sich eine globale Kultur herausgebildet, welche sich sensibel gegenüber jeglicher Diskriminierung zeigt. Die Haltungen werden von globalen Anglizismen repräsentiert, die vor allem in den jüngeren Generationen zu Parolen geworden sind, wie etwa political correctness, #metoo, cancel culture, black lives matter, cultural appropriation, gender-sensitive-language, wokeness usw., welche für das aktivistische und teils militante Eintreten gegen Rassismus, soziale Ungerechtigkeit und für den Schutz von Minderheiten stehen. Nun muss man sich die Frage stellen, ob diese Anliegen auch in der Gesellschaft Deutschlands eine nachhaltige Berechtigung auf Durchsetzung haben könnten.
„Contra“, Sönke Wortmanns Adaption des französischen Spielfilmes „Die brillante Mademoiselle Neila“ aus dem Jahre 2017, widmet sich der Themenstellung aus dem universitären Umfeld heraus, wobei sich das fiktive Szenario auf zahlreiche reale Ereignisse aus den letzten Jahren an Universitäten in der gesamten westlichen Welt stützen kann. Aber auch in Ländern des mittleren Ostens, wie das Beispiels des Iran gerade aufzeigt, begehren Studenten auf, um gegen die Diskriminierung der Frau zu kämpfen, nachdem die 17-jährige Mahsa Amini von der Sittenpolizei mutmaßlich zu Tode geprügelt wurde, weil ihr Kopftuch nicht richtig saß. Das ist der Stand der aktuellen Entwicklungen im Kampf gegen Diskriminierung auf der ganzen Welt, aber entstanden ist die besondere Sensibilität gegenüber Diskriminierung historisch zunächst in der Studentenschaft der US-amerikanischen Universitäten, also im Prinzip aus einem privilegierten und gebildeten Milieu heraus.
Die Haltung der political correctness gibt es schon seit Mitte des 20. Jahrhunderts, doch gewann der Ausdruck in den Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung immer mehr an Bedeutung. So konnten sich die Verfehlungen von Dozenten, die durch Diskriminierung von Homosexuellen, Frauen und People of Color auffielen, rasend schnell in den sozialen Medien und somit über die Tore der Campusse hinaus in die ganze Welt verbreiten. Was vorher hinter verschlossenen Türen gehalten werden konnte, verbreitete sich nun unter der typischen Erregungsbewirtschaftung und Skandalisierung über digitale Medien als Top-Meldung in die Gesellschaft. Man muss sich eventuell auch die Frage stellen inwieweit diese legitimen Bestrebungen dazu beitragen die Gesellschaft zu spalten. Die Folgen der Erregungsbewirtschaftung sind massive „Shitstorms“ oder Straßenproteste, bei denen auch in den USA Menschen zu Tode gekommen sind. In vielen Fällen hatten diese Proteste auch negative Konsequenzen für die Dozenten, wie etwa ihrer Entlassung aus dem universitären Dienst. Nicht in jedem Fall ging dazu eine ordentliche Prüfung voraus, denn der gesellschaftliche Druck war stark und die Gefahr für die nachhaltige Beschmutzung des Ansehens der Universitäten war in Gefahr. Gerade während der #metoo Debatte gab es viele hysterische Reaktionen, die an die Hexenverfolgung erinnert, was dazu führte das auch völlig unschuldige Menschen Ansehen und Beruf verloren und ins soziale Abseits gedrängt wurden. Selbst wenn einige vor Gerichten freigesprochen wurden, hing ihnen der Vorwurf noch an, denn in manchen Fällen lässt sich gar nicht genau aufklären, was zwischen zwei Menschen geschehen war, so dass der Generalverdacht in der Öffentlichkeit nicht abgeschwächt werden konnte und das Misstrauen gegenüber der beschuldigten Person bestehen bleibt.
Es ist aber nicht so, als würden die Universitäten in den USA alle diese Richtung gehen, denn decken sich die Auseinandersetzungen an den Akademien mit den gesellschafts-politischen Grabenkämpfen zwischen Anhängern der Republikaner und der Demokraten. Die Polarisierung in dieser eigentlich notwendigen Debatte, um den Abbau von Diskriminierung, führt aber dazu, dass linke Gruppen übersensibel, etwa in der Frage der kulturellen Aneignung, rechte Gruppen hingegen empathielos reagieren und am Ende nichts für die Minderheiten getan wird, deren negative Diskriminierungserfahrungen am wenigsten mit dem „Zigeunerschnitzel“ oder mit einem als Indianer verkleideten Kind an Karneval zu tun hat.
Auch in Deutschland berichten Minderheiten immer Häufiger von Diskriminierungserfahrungen, selbst an Universitäten, wo man doch seit Jahrzehnten eigentlich schon eine multikulturelle weltoffene Studierendenschaft beherbergt zu haben glaubte. Doch seit dem Erscheinen der identitären Rechten, die sich zuvorderst aus dem gebildeten universitären Umfeld speisen, wo sie erstmals seit dem Ende des Dritten Reidchs klar und ohne vorgehaltene Hand Farbe bekannten, ist jedoch klar, dass Universitäten nicht wegen des Wissens und der Lehre auch noch ein Hort der moralischen Unbeflecktheit sein müssten, sind auch schon viele Dozenten älterer Semester, vornehmlich der 68er Generation, in die Falle der politischen Unkorrektheit getappt und haben somit ihre Vorurteile gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund preisgegeben. War es bloß eine unbedachte Äußerung mit zynischem Humor oder ist es eine feste politische Haltung die dahinter steckt, die hier von akademisch gebildeten Menschen vertreten wird, das ist eine Frage, die sich eben nicht pauschal beantworten lässt. Viele Akademiker mit sozialer Prägung aus den 60er Jahren waren in ihrer Studentenzeit der Auffassung, man solle die Höflichkeit und Korrektheit auf den Misthaufen der Geschichte werfen, denn Höflichkeit verhülle nur die wahren Interessen und sei gegenüber anderen Menschen bloß Maskerade und Lüge. In Bezug auf die autoritären Erziehungsmethoden ihrer Schulmeister mit der Auferlegung von Tabus gesehen, war dies eine progressive Reaktion, doch das unreflektierte ungehaltene Äußern von Gedanken, verletzt Menschen und erreicht keine Kompromisse. Wenn es aber nur darum ginge, dass einige Akademiker ideologisch in ihrer Jugend verhaftet geblieben sind, dann könnte man darüber sprechen, doch auf der anderen Seite neigen ältere Menschen zum Starrsinn und letztlich wächst mit dem Alter auch die Angst um den eigenen Besitzstand. Von identitären Studenten werden sie dann unfreiwillig zu Wortführern gemacht, jedoch gibt es eine noch tieferliegende Basis für die Identitäre, nämlich nationalistische Studentenverbindungen, wo der Übergang von rechts zu rechtsextrem fließend ist. Hier docken die politischen Lobbys der ultrakonservativen und ultrarechten Alumni an.
Einen deutlichen Anschub für die identitäre Bewegung und wohl auch für die Entstehung der AfD hat der ehemalige Deutsche Bank Chef Dr. Thilo Sarrazin mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ gegeben. Erläuternd zu seinem multikulturkritischen Werk, in welchem er die These vertritt, dass Migration den Bildungs- und Leistungsstand Deutschlands herabsenken werde, vergleicht er die Deutschen mit einer edlen Pferderasse, die Migranten mit einem Esel, weshalb aus dieser Mischung kein Rennpferd hervorgehen könne. In Deutschland sind zwar auch schwarze von Rassismus betroffen, aber die größten Vorurteile herrschen derzeit gegenüber Muslimen, was im gesellschaftlichen Diskurs vom Gegner gerne als Islamophobie gebrandmarkt wird. Sarrazin, fest in dem Glauben, dass er damit keine rassistischen Werturteile ausspräche, noch die Islamophobie nährte, legte er mit dem Werk „Der neue Tugendterror“ nach, worin er die These vertritt, dass man in Deutschland nicht mehr sein Grundrecht auf freie Meinungsäußerungen wahrnehmen könne, ohne zensiert zu werden oder negative Folgen für seine Karriere entgegensehen müssen. Wenn es doch nur um freie Meinungsäußerung ginge, denn seine Aussagen sind ganz klar diskriminierend, weil sie pauschale Urteile über Angehörige des Islams fällen. Es handelt sich hier nicht um Meinungen, sondern um Straftaten. Würde er einschränkend sagen, dass es dabei um den politischen Islam ginge, könnte man die These durchaus als differenzierter durchgehen lassen. Ahmad Mansour, Psychologe und Islamkritiker, versucht diese Differenzierung, aber die Rechtsextremen benutzen seine Aussagen für Pauschalurteile über Muslime. Sarrazins neuestes Werk über den „Tugendterror“ rekurriert auf historische Führer, wie Oliver Cromwell und Maximilien de Robespierre, die dafür bekannt waren zwecks Durchsetzung einer überhöhten moralischen Vorstellung gerechten Handelns nicht tugendhafte Subjekte aus der Gesellschaft zu entfernen und zwar per Todesstrafe. Der Vergleich von Anti-Diskriminierung zu historischen Tugendterror mag polemisch sein, ist er aber ein Glücksgriff für das gesamte rechte Spektrum. Thilo Sarrazin ist zum Flaggschiff für den Eintritt rechtsextremer Akademiker in die öffentliche Debatte geworden. Er hat die rechtsextremen Debatten aus dem Sumpf des rechten Stammtischpöbels gehoben, so dass man glaubt heute wieder Dinge sagen zu dürfen, die man lange Zeit nicht mehr gehört hat.
So hat Friedrich Merz, Parteivorsitzender, der bisher als gemäßigt geltenden konservativen CDU, im September 2022 begonnen den Kurs seiner Partei nach rechts einzuschwenken, in dem er nun ein zwei zentrale Haltungen der Rechten übernimmt. Er darf damit als erster Unions-Politiker gelten, der in die gleiche Bresche wie Thilo Sarrazin und die AfD sticht, wenn er in einer politischen Talksendung den Genderterror, das linke Framing und die unausgewogene Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Medienanstalten beklagt. Auch wenn er die Terminologie „Tugendterror“ nicht benutzt hat, ist seine Haltung deutlich daran angelehnt, wie auch der Haltung gegenüber dem gerechten Verhalten gegenüber diskriminierten Minderheiten. Als wäre das noch nicht genug im rechtsextremen Tümpel gefischt, musste er sich für seine krude Theorie, dass ukrainische Geflüchtete in gefährlichem Ausmaß Sozialtourismus betrieben, entschuldigen. Tage später nach dem Gebrauch der rechtsextremistischen Parole „Sozialtourismus“, beschäftigt er sich wieder mit der Migrationsfrage in Bezug auf den Pull-Effekt. Letzteres ist strittig, aber die Verwendung der Terminologie „Sozialtourismus“ ist geistige Brandstiftung.
Der Film „Contra“ will diese politischen Hintergründe nicht vordergründig abbilden, strebt er eher die Überwindung jener Probleme an, indem er ermöglicht der Protagonistin näherzukommen, ihr Umfeld und die Bedingungen für ihre Herkunft kennenzulernen. Überdies ist es interessant, welche Argumente in welchen Debatten geführt werden, so dass man doch wieder Parallelen zu „The Great Debaters“ ziehen kann, nämlich beispielsweise in den Reden zu dem Thema, ob staatliche Sozialhilfe von der Selbstverantwortung abhielte oder inwieweit ziviler Ungehorsam gerechtfertigt sei. Die besondere Debatte im Finale ist jedoch eine, bei welcher sie als Muslimin dafür argumentieren muss, dass der Islam keine gewalttätige Religion sei. Insgesamt sind die Debatten-Duelle sehr erfrischend und haben stark ausgearbeitete Argumente. Natürlich befriedigen sie nicht die Lust derer, die sich tiefer für Debatten-Duellen interessieren oder bereits selbst Erfahrungen damit gesammelt haben, aber sie können dazu motivieren sich damit intensiver zu beschäftigen.
Auch wenn man das französische Original nicht gesehen hat, lassen sich die Einwürfe der Kritiker nachvollziehen, dass die deutsche Version wohl eine andere Stoßrichtung habe und auf die Utopie setze. Der eine bezeichnet es dann abfällig als Wohlfühlfilm, der die Gesellschaft zu positiv zeichnet, während der andere die positive Weltsicht lobt, die neue Kräfte freisetzt für eine gerechtere Welt einzutreten.
Vielleicht ist es tatsächlich ratsam nicht solange in einen Abgrund zu starren bis er letztlich in einen zurückblickt, denn dann bewegte man sich auf den Pfaden Nietzsches, dessen Nihilismus ein eloquentes Vehikel sein kann seinen Fatalismus zu verbergen.