Es gibt eine Szene in Emerald Fennells „Promising young woman“, diesem von Kritik wie Zuschauern frenetisch gefeierten Regiedebüt, die unscheinbar wirkt, aber besonders eindrücklich zeigt, wie perfide der Film den Zuschauer ins offene Messer laufen lässt. Da ist die Protagonistin (oder Antagonistin?) mit ihrem früheren Kommilitonen in einer Apotheke. Als Zuschauer ist man zu diesem Zeitpunkt noch unsicher, inwiefern sich zwischen den beiden tatsächlich eine Liebesbeziehung anbahnt, oder ob die aus gutem Grund auf Kriegsfuß mit dem männlichen Geschlecht (zumindest dessen toxischen Anteilen) stehende Cassie den Kinderarzt Ryan, dem sie kurz zuvor beim Wiedersehen in dem Coffeeshop, in dem sie arbeitet, so hinreißend in den Kaffee gespuckt hat, nicht doch für ihren Racheplan instrumentalisiert. Ryan beginnt ein Liedchen von Paris Hilton zu summen, Cassie, zunächst unangenehm berührt, steigt irgendwann mit ein, und unversehens trällern und tanzen die beiden unter den perplexen Blicken des Apothekers durch den Laden. Dieser obligatorische Moment, in dem die Darsteller zu einem peinlichen Popsong die Hemmungen fallen lassen, wäre in deiner RomCom des Vertrauens schnell zum platt romantisierenden Gimmick verkommen, hier dient Fennells Timing der Sache, im Nachhinein erinnert man sich an die Szene als letzten Versuch einer getriebenen Seele, in einer Gesellschaft der liebgewonnenen Standards Fuß zu fassen, in der kein Platz für sie ist.
Denn Cassie (Carey Mulligan war nie besser) ist, so viel soll unter Vermeidung von Spoilersünden verraten werden, im Auftrag der Gerechtigkeit unterwegs. Tagsüber lebt die 30-jährige, die sogar ihren eigenen Geburtstag vergisst, unter dem Dach ihrer Eltern (u.a. „Stifler`s Mom“ Jennifer Coolidge) und mit schlecht bezahltem Diner-Job eher weniger als mehr glücklich am Existenzminimum, nachts überträgt sie die Gleichförmigkeit ihres Alltags auf (selbst-)zerstörerische Weise ins Nachtleben: sie zieht durch die Clubs und Bars der Stadt, und folgt einem Ritual. Vorgeblich sturzbetrunken räkelt sie sich auf den Bänken und Barhockern, bis ein selbsternannter „Retter in der Not“ sie aufliest, nach Hause bringt, dort bisweilen sogar noch weiter abzufüllen versucht, nur um sie dann im wehrlosen Zustand flachlegen zu wollen. Der Haken für die Jungs: Cassie hat in Wahrheit keinen Tropfen Alkohol getrunken, sondern das Freiwild nur geschauspielert. Kaum werden die Herrschaften zu zudringlich, legt sie den Schalter um und erteilt ihnen eine nachhaltige Lektion. Die Kerle, die ihr ins Netz gegangen sind, addiert sie auf einer Strichliste in einem Notizblock. Und auch wenn wir die Beweggründe ihres Tuns erst nach und nach verstehen werden, ist sofort klar: diese Frau muss etwas Einschneidendes erlebt haben. Die Wiederkehr Ryans erscheint als ebenso einschneidend – doch was wird das für alle Beteiligten im Speziellen bedeuten?!…
„Promising young woman“ ist einer dieser Filme, mit denen im Vorfeld nicht zu rechnen ist. Eine Novizin auf dem Regiestuhl, die als Camilla Parker-Bowles in der Netflix-Serie „The Crown“ zunächst schauspielerisch von sich reden machte, entert die Preisgalas mit einer originellen Geschichte, die einen Nerv trifft angesichts der wieder auflodernden Debatten um ein rigoroseres Vorgehen gegen häusliche Gewalt an Frauen, der Neujustierung klassischer Geschlechterrollen und der wachsenden Ungleichheit innerhalb einer neoliberalen Leistungsgesellschaft. Eine Hauptdarstellerin, die nach einem Karriere-Peak Anfang der 2010er weitgehend in der Versenkung verschwunden war, und sich nun mit einem Paukenschlag zurückmeldet. Und eine Reihe cleverer Besetzungskniffe, angefangen bei Komiker Bo Burnham als Lichtstreif am patriarchalen Horizont, der mit entwaffnendem Humor und Offenheit der verschlossenen Bitterkeit Mulligans begegnet, bevor dicke Wolken jenen Lichtstreif verdunkeln, bis zu den everybody`s darlings Adam Brody („O.C. California“) und Christopher Mintz-Plasse („Superbad“), die man bislang als liebenswerte Idioten kannte, deren Figuren diesmal in ihrer Idiotenhaftigkeit eine Schmerzgrenze überschreiten, die als steter Tropfen den Stein von Cassies gebrandmarkter Vergangenheit höhlen. Es ist nicht der Klischee-Vergewaltiger, der dich schon im Klub weird angrinst, sondern der überdurchschnittlich gebildete Mittelschichtler, der in die Sexismus-Falle tappt. Und Mulligan gibt keinen affektgetriebenen Rape-and-Revenge-Racheengel, sondern eine komplex verletzte Seele, deren Methoden bei aller Konsequenz elegant, durchdacht und – weil sich der Film nicht schämt, unterhaltsam zu sein - herrlich durchtrieben sind. Natürlich ist ihr Feldzug moralisch extrem ambivalent, doch durch Mulligans präzises Spiel wird daraus ein Hohelied auf die Weiblichkeit. Vergeltung bleibt nicht der einzige Ausweg, aber ein Mittel zum Ausdruck einer fatalistischen Sicht auf die Dinge, einer Erkenntnis, dass Aufklärung allein nicht reicht, sondern die Systemfrage gestellt werden muss. Wenn das Mitgefühl mit dem männlichen Verdächtigen schwerer wiegt, als das Verständnis für den Leidensweg des potentiellen Vergewaltigungsopfers, erhalten jene Sequenzen, in denen Cassie ihre Geschlechtsgenossinnen offen mit dem Status quo konfrontiert und sie aus dem Racheplan nicht ausklammert, obgleich herausfordernd, eine unbequeme logische Stringenz. Wenn man selbst betroffen ist, ist der moralische Kompass eben doch ein anderer.
Es bestand die Gefahr, bei einer solchen Thematik das Taktgefühl zu verlieren, gerade wenn der Fokus auf einem vergnüglichen Thriller-Plot liegt. Aber es darf Entwarnung gegeben werden: „Promising young woman“ trifft stets den richtigen Ton, vermeidet einen allzu reißerischen Umgang mit ganz gleich wie geartetem Missbrauch durch die zutiefst menschliche Erdung im Mittelteil des Films und die Gliederung in fünf „Kapitel“ des Plans, die Cassies Antrieb ihrer ganz eigenen Form von Rebellion verdeutlichen, und ist dabei so weit entfernt davon, ein „Männerhasserfilm“ zu sein, wie in manchen sozialen Medien zu lesen war, wie bei diesem Stoff nur möglich. Im Gegenteil: man fiebert mit dieser Cassie mit, die einer teilweise absurd geführten Genderdebatte ein starkes feministisches Ausrufezeichen entgegensetzt. Carey Mulligan präsentiert sich dabei als überragende Verwandlungskünstlerin; sie spielt quasi mehrere Frauen gleichzeitig und reflektiert damit weibliche Rollenbilder. Ob jetzt die an ihrem Strohhalm nippende, leicht verpeilte Caféangestellte, das personifizierte schlechte Gewissen der männlichen Verkehrsteilnehmer, das zu den Klängen von Wagners „Tristan & Isolde“ mit dem Brecheisen eine Windschutzscheibe demoliert, oder eben die Rachefee im letzten Akt, als Fennell eine fetischisierte Männerfantasie brutal ad absurdum führt – Emerald Fennell, die auch das Skript schrieb, weist Weiblichkeits-Stereotypen in die Schranken, und findet in Mulligan ihr ideales schauspielerisches Werkzeug. Das Finale des Films setzt einem brillanten Film die Krone auf, verdichtet seine Botschaft in einer Konsequenz, die in den letzten Jahren nicht nur im Genre ihresgleichen suchte, und ist bis ins letzte, ungemein befriedigende Frame perfekt.
Fazit: „Promising young woman“ ist viel mehr als ein #metoo-Rachefilm oder eine weibliche Selbstermächtigungsfantasie. Emerald Fennell liefert mit ihrem Spielfilm-Erstling die meisterhaft geschriebene und gespielte Beobachtung einer Welt, an deren patriarchalem Grundgerüst nicht nur die Männer fleißig mitgebaut haben, sondern all jene, die Sexismus und sexuelle Gewalt an Frauen marginalisieren – im Gewand eines bitterbösen Lustspiels, dessen Knallpink einen ebenso verstört zurücklässt wie das grandiose Finale, das Anklage und Katharsis zugleich bereithält und Fennell als eine der mutigsten Filmemacherinnen der vergangenen Jahre ausweist.