Drei Jahrzehnte in drei Stunden
Von Christoph PetersenDrei Jahrzehnte in drei Stunden. In seinem episch angelegten Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Bis dann, mein Sohn“ verwebt Regisseur Wang Xiaoshuai („Red Amnesia“) die chinesische Entwicklung von der Kulturrevolution in der ersten Hälfte der Achtzigerjahre bis zum heute herrschenden Turbokapitalismus mit der sehr persönlichen Geschichte zweier Familien, die vor allem durch ihre am selben Tag geborenen Söhne geradezu schicksalhaft miteinander verbunden sind. Dabei halten sich die gesellschaftskritischen und melodramatischen Elemente stimmig die Waage, selbst wenn sich Xiaoshuai zwischendrin immer wieder auf dramaturgische Taschenspielertricks verlässt, um die Spannung hochzuhalten, was ihm aber auch nicht konsequent über die gesamte Lauflänge von 175 Minuten hinweg gelingt.
Alles beginnt an einem schönen Sommertag. Ein kleiner Junge ertrinkt im Rückhaltebecken eines Staudamms, sein bester Freund bleibt zitternd zurück und wird sich noch lange Zeit die Schuld an dem Vorfall geben. Jahre später leben Liu Yaojun (Jing-chun Wang) und Wang Liyun (Mei Yong), die Eltern des toten Kindes, mit ihrem Adoptivsohn Liu Xing (Singer-Songwriter Wang Yuan, der laut Time zu den 30 einflussreichsten Teenagern der Welt zählt) in einer fremden Stadt, wo sie inzwischen einen kleinen Reparierladen betreiben. Aber auch an Li Haiyan (Ai Liya) und Shen Yingming (Xu Cheng), den Eltern des noch lebenden Kindes, nagt selbst nach einer halben Ewigkeit noch immer die Schuld. Als bei Li Haiyan ein tödlicher Hirntumor diagnostiziert wird, kehren Liu Yaojun und Wang Liyun nach Jahrzehnten unterdrückter Gefühle an den Ort ihrer größten Trauer zurück...
Wang Xiaoshuai springt in seinem gemeinsam mit Mei Ah („A Wedding Invitation“) verfassten Drehbuch konstant zwischen den verschiedenen Zeitebenen hin und her, um mal hier und mal dort noch ein kleines Detail zu ergänzen. So legt er nach und nach ein verworrenes Netz aus Schuld und Verdrängung offen, das alle seine Protagonisten in ihrer ständigen Trauer gefangen zu halten scheint – und das zugleich natürlich auch als Metapher für das China der vergangenen 30 Jahre steht, in dem die Menschen erst unter den Oppressionen des Kommunismus und schließlich unter den Auswüchsen des Kapitalismus zu leiden haben.
Das Politisch und das Private sind hier auf untrennbare Weise miteinander verflochten – und da wir schon wissen, dass ihr erstgeborener Sohn wenige Jahre später ertrinken wird, ist es nur noch umso schmerzhafter, miterleben zu müssen, wie Wang Liyun aufgrund von Chinas damaliger Ein-Kind-Politik gezwungen wird, ihr zweites Kind abzutreiben. Der Höhepunkt des Zynismus ist erreicht, wenn sie dafür von der Partei auch noch eine Auszeichnung für ihren Einsatz für die Familienplanung erhält, der dem Paar vor der versammelten applaudierenden Belegschaft der Fabrik überreicht wird. Beim nächsten Mal, als wir die Beschäftigten wieder auf einem Haufen sehen, gibt es nicht länger Beifall, sondern Aufruhr – der Kommunismus ist vorbei, der Kapitalismus verlangt nach radikalem Stellenabbau.
Dass das so sehr berührt, liegt in erster Linie an dem grandiosen Cast, aus dem die beiden Hauptdarsteller Jing-chun Wang („Feuerwerk am helllichten Tage“) und Mei Yong („The Assassin“) sogar noch einmal herausragen: Trotz ihrer tiefen Traurigkeit tragen sie den Film mit einer Energie, die aus purer Menschlichkeit zu bestehen scheint und die selbst dann noch ganz leicht Hoffnung hindurchschimmern lässt, wenn Liu Yaojun an einer Stelle gänzlich unsentimental und kein bisschen verbittert feststellt: „Für uns ist die Zeit längst stehengeblieben. Jetzt warten wir nur noch darauf, alt zu werden.“
Seine Spannung zieht das Drama hingegen vornehmlich aus den ständigen Sprüngen zwischen den Zeitebenen und dem damit verbundenen geschickten Vorenthalten von Informationen. Gerade in Bezug auf die wahre Identität des Adoptivsohns Liu Xing werden immer wieder falsche Fährten gelegt. Das deutet wiederholt auf mögliche große Twists hin, die auch einer Seifenoper alle Ehre machen würden. Zum Glück manifestiert sich keiner davon, stattdessen erweist sich „Bis dann, mein Sohn“ trotz aller zwischenzeitigen Verwirrung am Ende als erstaunlich geradlinige Erzählung. Aber Wang Xiaoshuai setzt trotzdem ganz zentral auf die Wirkung dieser Ablenkungsmanöver, um das Interesse des Publikums hochzuhalten. Durchgängig gelingt ihm das aber trotz dieses dramaturgischen Kniffs nicht. Zwischendrin gibt es doch immer ein paar spürbare Längen.
Fazit: Ein ausschweifend erzähltes Melodram mit heftig-politischen Untertönen, das vor allem dank der großartigen Leistung seiner zwei Hauptdarsteller zu Herzen geht, das seine stolze Lauflänge von fast drei Stunden aber nur bedingt rechtfertigt.