Das Ende des Verstehens
Von Christoph Petersen„Ich war zuhause, aber...“ beginnt mit einer der frühesten assoziativen Errungenschaften des Kinos. Ein Hund läuft über eine Wiese. Ein Kaninchen hoppelt dasselbe Stück Erde entlang. Der Zuschauer versteht sofort, dass der Hund das Kaninchen jagt, selbst wenn er die beiden nie gemeinsam im Bild sieht. Und er versteht offenbar richtig. In der folgenden Szene nagt der Hund am Kadaver des verfolgten Tieres, neben ihm schaut ein Esel aus dem Fenster. Eine erfolgreiche Kommunikation zwischen Film und Publikum. Aber Angela Schanelec („Der traumhafte Weg“) geht es weniger um das Verstehen als vielmehr die Grenzen desselbigen. Der Kauf eines Fahrrads gelingt mit wenigen künstlich verknappten Sätzen, obwohl der Verkäufer keinen Kehlkopf mehr hat und eine elektronische Sprechhilfe nutzen muss, um sich verständlich zu machen. Aber schon die gewünschte Retoure wegen eines Defekts mit der Gangschaltung gestaltet sich schwierig.
Der Auslöser für all das, was in dem ausgestellt abstrakten „Ich war zuhause, aber...“ geschieht, scheint der Schüler Phillip (Jakob Lassalle) zu sein, der für einige Tage verschwunden war und zu Beginn des Films wiederauftaucht. Es gibt für die Abwesenheit keinen erkennbaren Grund, der Tod des Vaters zwei Jahre zuvor wäre eine viel zu einfache Erklärung. Danach bringt Philips Mutter Astrid (Maren Eggert), die in einer nicht näher erläuterten Funktion im Berliner Kulturbetrieb arbeitet, seine schmutzige gelbe Jacke zur Reinigung, aber die Frau am Tresen sagt ihr gleich, dass die wohl nicht mehr sauber wird. Philips Lehrer diskutieren derweil, welche Folgen das Verschwinden haben soll, man müsse sich dazu schließlich irgendwie verhalten. Aber dann liefern sie sich doch lieber einen inszenierten Schwertkampf mit den Kostümen und Requisiten, die Philip und seine Klassenkameraden für ihre Proben von Shakespeares „Hamlet“ angefertigt haben...
Gerade von amerikanischen Cinephilen wird Angela Schanelec längst als Star des deutschen Autorenkinos verehrt. Hierzulande wird ihre Arbeit trotz Professur an der Hochschule für bildende Künste Hamburg hingegen noch immer nicht genug gewürdigt. Die Aufnahme von „Ich war zuhause, aber...“ in den offiziellen Wettbewerb der Berlinale ist da nur ein längst überfälliger erster Schritt, ganz gleich, dass am Ende der Festival-Pressevorführung ähnlich viel gebuht wie applaudiert wurde. Schanelec ist eine Verfechterin der reinen Form von Film als Erfindung. Das mag manch einer als leblos und steif wahrnehmen. Aber es ist nur die Anerkennung dessen, dass ein gezeigtes Leben auf der Leinwand nicht deswegen wahr ist, weil es nach einem wahren Leben aussieht. Ganz im Gegenteil. Schanelecs strenge Kompositionen sprudeln so auch regelrecht vor Menschlichkeit. Man muss nur genau hinsehen.
Um die Frage nach der Wahrhaftigkeit geht es auch im einzigen längeren Dialog des Films, der sich schnell zu einer regelrechten Wutrede von Astrid hochschaukelt. Zufällig trifft sie vor einem Supermarkt auf einen Professur-Anwärter (Dane Komljen), dessen Bewerbungsfilm, in dem eine ausgebildete Tänzerin auf einen tatsächlich todkranken Laien trifft, sie ganz fürchterlich fand. Es folgt eine theoretische Tirade über Körperlichkeit und Wahrheit, die zugleich auch eine große Komik offenbart, wenn der sein Fahrrad schiebende junge Regisseur immer verdatterter aus der Wäsche schaut. Am Ende sagt er, er hätte sie verstanden. Aber das stimmt natürlich nicht. Nicht nur in diesen Momenten wird Astrid ein Stück weit zum Alter-Ego der Regisseurin. Da ist es sicherlich kein Zufall, dass Astrids verstorbener Mann als Theaterregisseur gearbeitet hat, während Schanelec die letzte Partnerin der 2009 verstorbenen Theaterlegende Jürgen Gosch war.
Wie das Zeigen von Hund und Kaninchen nur ein Angebot an den Zuschauer ist, ihre Wiesensprints in seinem Kopf selbst zusammenzufügen, verzichtet Schanelec in ihrem Film auf jede Form der eindeutigen Psychologisierung. Der Auslöser für das Verschwinden des Schülers bleibt ebenso offen wie der Grund für die gelegentlichen Wutausbrüche seiner Mutter. Wahrscheinlich war er an gar keinem irdischen Ort, sondern vielleicht an jenem, an dem auch Astrid am Schluss ein wenig Geborgenheit findet (wobei man sich offenbar auch an magischen Plätzen einen Zeh abfrieren kann). Stattdessen lässt Schanelec von allen Seiten das Leben inklusive aller möglichen Formen des Verstehen-Versuchens in ihren Film hereinströmen.
Sie folgt einem von Philips Lehrern (Franz Rogowski), der an seiner zeitungsaustragenden Freundin (Lilith Stangenberg) vorbeiredet, mit der er unbedingt Kinder haben möchte, damit nicht irgendwann einfach alles vorbei ist, während sie es gar als ihre Lebensmission begreift, einsam zu sein. Oder dem Flüchtlingsjungen, der Astrid im Supermarkt eine Kiste mit ihrem Stamm-Mineralwasser herbeiträgt. All diese Tangenten sind gleichsam faszinierend, ohne dass sie ein offensichtliches Gesamtbild ergeben würden. Nur das mit der Sprache haben sie gemein. Je mehr das Verstehen scheitert, desto mehr wandeln sich die sonst betont reduzierten, auf den Punkt formulierten Sätze in eine fast schon bühnentaugliche Prosa. Mit einem Appell von Astrid an Philips Lehrer, ihren Sohn nicht zu hart zu bestrafen, als Höhepunkt. Hier erreicht die hilf- und ziellose Sprache – inklusive einer ins Leere laufenden Heizungskörper-Metapher – eine fast schon tragikomische Dimension.
Fazit: Filme mit Eseln sind ja meistens sehr gut. „Ich war zuhause, aber...“ bildet da keine Ausnahme.
Wir haben „Ich war zuhause, aber...“ im Rahmen der Berlinale 2019 gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wurde.