Die Macht eines Bildes
Von Janick Nolting„Tomoko In Her Bath“ von William Eugene Smith gilt als eine der berühmtesten Fotografien aller Zeiten. Sie zeigt den nackten Körper eines jungen Mädchens, der leere Blick nach oben gerichtet, die Rippen treten hervor, die Gliedmaßen deformiert. Ihre Mutter hält sie in einem Badezuber in den Armen. Tomoko wurde infolge der sogenannten Minamata-Krankheit zum Pflegefall. Regisseur Andrew Levitas („Lullaby“) erzählt in seinem zweiten Spielfilm „Minamata“ die Entstehungsgeschichte dieses bewegenden Fotos und holt dessen Schöpfer ins Rampenlicht. Dabei will sich Levitas allerdings nicht so recht entscheiden zwischen Charakterstudie und politischem Pamphlet.
Im Jahr 1971 ist W. Eugene Smith (Johnny Depp) ein nervliches Wrack. Der berühmte Fotoreporter haust in seiner verdunkelten New Yorker Wohnung. Der Alkohol ist sein ständiger Begleiter, nachts halten ihn die verstörenden Bilder seiner früheren Arbeiten während des Zweiten Weltkriegs wach. Von der Übersetzerin Aileen (Minami) und Robert Hayes (Bill Nighy), dem Herausgeber des Life Magazines, lässt er sich dennoch zu einer Japanreise überreden. In dem Dorf Minamata leiden die Bewohner unter den Folgen einer verheerenden Quecksilbervergiftung. Smith kommt einem politischen Skandal auf die Spur und zieht gegen den skrupellosen Chisso-Konzern zu Felde…
W. Eugene Smith findet durch Eileen wieder eine Bestimmung.
Man muss Andrew Levitas zunächst einmal hoch anrechnen, dass er es nicht nötig hat, auf klassische Biopic-Versatzstücke zurückzugreifen. Alles, was man über den Protagonisten wissen muss, ist nach der ersten halben Stunde etabliert, da muss nicht jede Lebensstation erst nacherzählt werden. „Minamata“ ist vielmehr Momentaufnahme eines getriebenen, zerrütteten Mannes. Die schummerig ausgeleuchteten Bilder und die plötzlich hereinbrechenden Erinnerungsfetzen an die Kriegserlebnisse lassen tief und eindringlich in Smiths Seelenleid blicken.
Als Hauptdarsteller muss sich Johnny Depp dabei durch ein wahres Passionsspiel kämpfen! Nicht nur auf einer körperlichen, sondern durchaus auf einer religiösen Ebene. An der Wohnungstür des Fotografen klebt ein Zettel, auf dem zu lesen ist, man solle ihn nur stören, wenn man die erneute Ankunft des Heilands verkünden könne. Zunächst ein netter Gag, bis man plötzlich verdutzt realisiert, dass der Film mit dem Heiland wohl tatsächlich seine Hauptfigur meint.
„Minamata“ kann und soll die prägenden journalistischen Leistungen des W. Eugene Smith würdigen. Unangenehm wird es dann aber, wenn sich Levitas´ Film an der Grenze zur Verklärung bewegt. Da erscheint der Fotoreporter als einer, der alles Leid auf sich nimmt, der sich für das Wohl der Armen schinden lässt, der sich rührend um die von der Krankheit betroffenen Kinder kümmert und der dem japanischen Volk wie eine Erlösergestalt in Erscheinung tritt. Na klar, Smiths Leistung in dieser wahren Geschichte ist nicht kleinzureden, aber ein etwas schärferer Blick auf die nicht minder bedeutsamen Bürgerinnen und Bürger in seinem Umfeld wäre da angebracht gewesen. Die bleiben seltsam konturenlos, obwohl mit u. a. Hiroyuki Sanada und Tadanobu Asano einige der bekanntesten und besten japanischen Charakterdarsteller gecastet wurden.
Dennoch muss man „Fluch der Karibik“-Star Johnny Depp lassen, dass es ihm hier gelingt, all die Stärken seiner langjährigen Karriere in einer Rolle zu bündeln. Der ungestüme Revolutionär, der Sensible, der Zerbrochene und der Schelm, der Zyniker – all diese Facetten spielt der dreifach oscarnominierte Schauspieler in „Minamata“ gekonnt und angenehm subtil auf und ab, von dem fulminanten, wortgewandten Zusammentreffen zwischen ihm und seinem Film-Boss Bill Nighy („Tatsächlich… Liebe“) ganz zu schweigen!
Alte Freunde, die sich viel streiten.
Am beeindruckendsten ist das Drama sowieso, wenn es seinen Protagonisten bei der Arbeit zeigt. Die Intimität des Fotografierens, das Aufblitzen der Motive, die Art und Weise, wie sich das bewegliche Filmbild langsam in die starre Fotografie verwandelt, wie sich die Farbgebung innerhalb bestimmter Sequenzen verändert: Andrew Levitas und Kameramann Benoît Delhomme („Van Gogh - An der Schwelle zu Ewigkeit“) finden mitunter eine starke Bildästhetik für die Reflexion der Foto-Thematik. Und dennoch versagt „Minamata“ dann, wenn es darum geht, das Charakterdrama im Privaten mit der großen Politik zu verknüpfen.
Wenn sich der Film schließlich auf den Kampf gegen die böse Industrie konzentriert, dann ist das zweifelsohne dringlich und aktuell. Mit Umweltverseuchung, Korruption, dem Vertuschen von politischem Versagen und dem darauf folgenden Widerstand liegt schnell auf der Hand, warum dieser Stoff aus den 70er Jahren auch im Jahr 2020 eine solche Relevanz besitzt, aber etwas mehr Komplexität hätte es dann doch sein können!
„Minamata“ verlässt sich gern auf seine Rührseligkeit, zeigt klagende Eltern, unterlegt das mit sentimentaler Musik, ruft von der Leinwand aus zum Widerstand auf, aber die eigentliche politische Ebene bleibt dann doch meistens bei Klischees. Da stehen die bösen Industriellen mit finsteren Blicken in ihren sterilen Designer-Büros am Fenster, während draußen vor der Fabrik die wütende Menge brüllt, aber viel mehr als solche altbacken inszenierten Gegenüberstellungen hat Andrew Levitas dann doch nicht zu zeigen.
Die einzelnen Parteien und Figuren bekommen einfach kein Profil, „Minamata“ versteckt sich zu oft hinter seiner Hauptfigur. Der politische Feind wird quasi ganz ausgeblendet, er ist nicht mehr als das zwielichtige Böse. Levitas ist so damit beschäftigt, das Universelle seiner Geschichte herauszuarbeiten, dass er den konkreten historischen Fall lediglich mit etwas Schwarz-Weiß-Malerei und simplen Erklärungen aufbereitet. Da gibt es keinen Unterschied mehr zu Johnny Depps Figur, wenn diese lebensmüde und betrunken auf den ewigen Kreislauf von Ausbeutung und Unterdrückung verweist und einfach nur noch aufgeben will. Auf eine echte Durchdringung der Gegebenheiten hat da offenbar niemand mehr Lust.
Fazit: Johnny Depp spielt sich herausragend durch ein wenig erinnerungswürdiges Journalisten-Drama. „Minamata“ hat zwar viel Gespür für seine Hauptfigur und Bildästhetik, kann sich aber mit seiner weichgespülten Erzählweise nicht über den Durchschnitt retten.
Wir haben „Minamata“ auf der Berlinale gesehen, wo er in der Sektion Berlinale Special gezeigt wurde.