Netflix hat jetzt seine eigenen X-Men!
Von Christoph PetersenWer sich ohne Vorwissen einfach nur anschaut, was der allmächtige Streaming-Logarithmus empfiehlt, der wird im Fall des Netflix-Originals „The Old Guard“ schon in den ersten 15 Minuten mit einem gewaltigen Twist belohnt. (Wenn ihr die Vorlage nicht kennt und auch nicht wisst, in welches Genre der Film genau fällt, an dieser Stelle also vielleicht lieber nicht weiterlesen.) Denn bereits in der allerersten Szene sehen wir die blutverschmierte Charlize Theron sterben, bevor der Film anschließend einige Tage in der Zeit zurückspringt.
Ein ausgelutschtes dramaturgisches Klischee, das Regisseurin Gina Prince-Bythewood („Behind The Lights“) allerdings gewitzt unterwandert: Statt im Finale des Films kommen wir nämlich schon nach nicht mal 15 Minuten zu der Auftakteinstellung zurück – Anführerin Andy (Charlize Theron) und ihre internationale Söldnertruppe werden in einem Hinterhalt gnadenlos niedergemäht. Und das ist dann auch der Moment, in dem selbst der uninformierte Zuschauer erkennt: „The Old Guard“ ist doch keine Söldner-Action à la „Tyler Rake: Extraction“, sondern Netflix` erster eigener Superhelden-Blockbuster – basierend auf der gleichnamigen Graphic-Novel-Reihe von Greg Rucka und Leandro Fernández.
Inzwischen kann Andy auch mit modernen Waffen gut umgehen - aber die Affinität zur guten alten Streitaxt hat sie sich dennoch über die Jahrhunderte bewahrt.
Andy (Charlize Theron) führt eine geheime Gruppe von vier Söldnern an, die rund um den Globus für das Gute eintreten – quasi ein modernes A-Team, das nicht die Geschäfte um die Ecke vor Schutzgelderpressern beschützt, sondern entführte Schülerinnen im Südsudan befreit. Aber was keiner weiß: Andy heißt in Wahrheit Andromache Of Scythia und ist mehr als 1.000 Jahre alt! Sie ist unsterblich, ohne den Grund dafür zu kennen – genauso wie ihre Mitstreiter Booker (Matthias Schoenaerts), Joe (Marwan Kenzari) und Nicky (Luca Marinelli).
Doch dann wird die „alte Garde“ von Copley (Chiwetel Ejiofor) in eine Falle gelockt: Der ehemalige CIA-Agent will die Unsterblichen für den Pharma-CEO Merrick (Harry Melling) einfangen, damit der aus ihrem Serum neuartige Medikamente entwickeln kann. Zugleich taucht mit der US-Soldatin Nile (KiKi Layne) in Afghanistan eine weitere Unsterbliche auf – und so muss Andy gleichzeitig ihr Team in Sicherheit bringen und den Neuzugang mit den (überwiegend tragischen) Seiten des Superheldendaseins vertraut machen...
Mit „The Old Guard“ versucht Netflix eine Frage anzugehen, die sich viele Comic-Fans bestimmt schon immer gestellt haben: Sind fünf Wolverines wirklich besser als einer? Wobei die Antwort nicht eindeutig ausfällt – schließlich reichen bereits die Wolverine-Auftritte von Hugh Jackman von bescheiden („Origins“, „Weg des Kriegers“) bis großartig („X-Men 2“, „Logan“). „The Old Guard“ liegt nun irgendwo dazwischen – mit einer Tendenz zum oberen Ende: Denn selbst wenn es hier nun fünf Unsterbliche gibt, die mit ihrem ewigen Leben und der damit einhergehenden Verantwortung hadern, setzt sich „The Old Guard“ doch deutlich intensiver mit der tragischen Seite auseinander, als man es von einem Superhelden-Blockbuster gemeinhin erwarten würde.
Dass das in diesem Fall so gut funktioniert, liegt neben dem von Vorlagen-Autor Greg Rucka („Whiteout“) persönlich verfassten Drehbuch vor allem an der durch die Bank hochkarätigen Besetzung: Auf den Schultern von Charlize Theron („Monster“) lastet sichtlich der Ballast vieler Jahrhunderte – während sie in den zielstrebig und ohne ein Gramm Fett zu viel inszenierten Actionszenen glaubhaft Gegnerhorden ausschaltet (nach ihren ähnlich überzeugenden Leistungen in „Max Max: Fury Road“ und „Atomic Blonde“ ja auch keine allzu große Überraschung mehr). KiKi Layne macht nach ihrem Arthouse-Hit „Beale Street“ zudem einen ganz gewaltigen Schritt in Richtung Filmstar – während Marwan Kenzari (Jafar in „Aladdin“) und Luca Marinelli („Martin Eden“) eine der berührendsten Liebeserklärungen beisteuern, die man je in einem Superheldenfilm miterleben konnte.
Egal ob als Cousin von Harry Potter - oder hier als Pharma-CEO: Harry Melling kann einfach supergut Arschlöcher spielen!
Harry Melling hat seit seinen Tagen als Harry Potters sadistischer Cousin zwar ganz schön abgenommen, spielt aber auch als „jüngster Pharma-CEO überhaupt“ erneut ein superschmieriges Arschloch. Damit erreicht er zwar das Ziel, dass man ihm als Zuschauer am liebsten selbst sofort die Fresse polieren würde, aber mit seiner „Lex Luthor auf Crack“-Performance wandelt er auch immer auf dem schmalen Grat zur Karikatur, was sich wiederum mit der sonst so bodenständigen Behandlung des Superhelden-Themas beißt. Viel besser passt da die Art der Action – keine ausufernden Comic-Prügeleien, sondern knallharte Kopfschuss-Gefechte ohne Gefangene.
Was für einen rundum gelungenen Superhelden-Blockbuster mit Action und Anspruch noch fehlt, ist allerdings ein wenig das Opulente und Ausladende, mit dem etwa die Produktionen von Marvel und DC so gerne protzen: Abseits des zentralen Casts gibt es kaum Sprechrollen – und die meisten Szenen finden in Innenräumen statt, die es kaum mal erlauben, eine epische Perspektive zu eröffnen. (Auch die Rückblicke in frühere Jahrhunderte etwa zu den Kreuzzügen wirken eher wie aus einer kleinen TV-Produktion statt wie aus einem Ridley-Scott-Historienepos.) Da sollte sich Netflix gut überlegen, ob man bei einem am Ende bereits per Mid-Credit-Szene angeteaserten Sequel nicht doch noch das eine oder andere Milliönchen mehr an Budget zur Verfügung stellen sollte.
Fazit: Die Netflix-Alternative zu den „X-Men“ bietet auch thematisch ambitionierte Superhelden-Action, die mit seiner großartigen Besetzung vor allem die Schattenseiten eines unsterblichen Daseins beleuchtet.