Die Mutter-Tochter-Version von "Misery"
Von Oliver KubeNach ihren Auftritten als sadistische Krankenschwester in der Netflix-Serie „Ratched“, als undurchsichtige Psychiaterin in M. Night Shyamalans „Glass“ sowie in diversen Staffeln der Anthologie-Serie „American Horror Story“ scheint Sarah Paulson aktuell regelrecht auf eiskalt berechnende und dabei buchstäblich über Leichen gehende Figuren abonniert zu sein. Ist ja auch kein Wunder – schließlich beherrscht sie diese Rolle so hervorragend, dass sie regelmäßig von Kritikern und Publikum vollkommen zu Recht mit Lob überhäuft wird.
Auch in dem Psycho-Thriller „Run spielt sie wieder mitreißend – und trotzdem hätten sich die Macher vielleicht lieber eine andere Schauspielerin aussuchen sollen. Denn während der Film ohnehin nur wenig Überraschendes zu bieten hat, löscht die Besetzung von Sarah Paulson auch noch die letzten Zweifel daran aus, dass mit der sich so liebevoll um ihre schwer gebeutelte Tochter kümmernden Diane etwas ganz und gar nicht stimmt. So verläuft der zweite Film von Aneesh Chaganty, der mit seinem Debüt „Searching“ noch einen wendungsreichen Überraschungshit hingelegt hat, in sehr geraden und vorhersehbaren Bahnen. Dass der Thriller trotzdem kurzweilig bleibt, liegt deshalb vor allem an der schauspielerischen Qualität.
Die Besetzung von Sarah Poulson hilft nicht wirklich dabei, die Antwort auf die Frage zu verschleiern, ob Diana nun noch alle Latten am Zaun hat oder nicht...
17 Jahre, nachdem sie viel zu früh eine in diesem Zustand kaum überlebensfähige Tochter zur Welt gebracht hat, lebt Diane Sherman (Sarah Paulson) mit der inzwischen fast erwachsenen Chloe (Kiera Allen) in einem Haus etwas außerhalb von Seattle. Die Teenagerin ist aufgrund ihrer gelähmten Beine nicht nur auf einen Rollstuhl angewiesen, sie leidet darüber hinaus auch an Diabetes, Asthma, Herzbeschwerden, starken Hautausschlägen und weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Deshalb besucht sie auch keine reguläre Schule, sondern wird von ihrer Mutter daheim unterrichtet.
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Abgesehen vom Briefträger (Pat Healy) ist ihre Mutter auch Chloes einziger regelmäßiger sozialer Kontakt. Trotzdem hofft sie, bald an einem College angenommen zu werden und so endlich in ein selbstbestimmtes Leben starten zu können. Chloe liebt ihre Mutter, die sie in ihren Wünschen und Zielen zu unterstützen scheint. Aber dann kommt der Teenagerin mehr und mehr der Verdacht, Diane könne sie womöglich absichtlich von der Außenwelt isolieren. Außerdem scheint mit den Medikamenten, die sie jeden Morgen schlucken muss, etwas nicht zu stimmen...
Das Publikum ahnt schon lange vor Chloe, was im Hause Sherman wirklich vor sich geht. So kommt selten Spannung auf, weil man nicht weiß, was Sache ist – sondern in der Regel nur, wenn Chloe bei ihren Nachforschungen eventuell erwischt werden könnte. Ein positives Beispiel dafür ist eine Szene mit Schauspieldebütantin Kiera Allen, die auch im realen Leben im Rollstuhl sitzt und ihre Rolle nicht nur mit großer Authentizität, sondern auch mit erstaunlicher Intensität verkörpert:
Das nahezu rund um die Uhr von ihrer Mutter mit Argusaugen überwachte und vom Internet abgeschnittene Mädchen versucht heimlich übers Telefon herauszubekommen, welche Pillen ihr die nur wenige Meter entfernt im Garten arbeitende Diane da regelmäßig verabreicht. Hier nutzt Regisseur Chaganty eines der simpelsten ihm zur Verfügung stehenden Werkzeuge: Tempo – vermittelt durch harte Schnitte, Chloes immer schneller werdenden Atmung und den erst ganz zum Schluss der Sequenz dramatisch anschwellenden Score von Torin Borrowdale („Locke & Key“).
Ein (etwas zu lang gezogener) Showdown in der örtlichen Apotheke.
Genau diese Konzentriertheit hätte einem anderen, thematisch ähnlich gelagerten Moment ebenfalls gutgetan. Eine der seltenen Szenen jenseits der Mutter-Tochter-Behausung gerät nämlich deutlich zu lang: Auch durch Kamera-Spielereien mit Unschärfen und Wacklern, um Angst und mentalen Stress anzudeuten, büßt Chloes verzweifelter Besuch einer Apotheke schnell an Kraft und Suspense ein.
Aneesh Chagantys Inszenierung schien bei „Searching“ noch so leicht und ungezwungen von der Hand zu gehen. Grund dafür war vielleicht der ungewöhnliche Ansatz, das komplette Geschehen lediglich auf Computer- oder Smartphone-Displays stattfinden zu lassen. Im Gegensatz dazu wirkt die Dramaturgie bei seinem deutlich konventioneller angelegten Nachfolger immer wieder schwerfällig, teilweise fast schon plump.
Zudem strapaziert das von ihm in Co-Autorenschaft mit Produzent Sev Ohanian verfasste Drehbuch den guten Willen des Publikums in Sachen Glaubwürdigkeit zu häufig. Nicht nur sind diverse Wendungen meilenweit vorhersehbar, immer wieder kommt im Laufe der Eskalation des Katz-und-Maus-Spiels der Mutter ein Zufall oder die Unbedarftheit Dritter zugute. Auf die Spitze treibt es der Film diesbezüglich beim Finale in einem Krankenhaus, das wie aus einer wilden Räuberpistole an den Haaren herbeigezogen wirkt.
Auch wenn Dianes Motive anderer Art sind als die von „Misery“-Protagonistin Annie Wilkes, ist es sonnenklar, dass man sich hier an dem Thriller-Klassiker orientiert. Das ist auch völlig legitim und wird von den Autoren an einigen Stellen sogar offen eingeräumt, etwa wenn sie die Apothekerin nach der für „Misery“ mit einem Oscar ausgezeichneten Kathy Bates benennen. So ist Chloe ähnlich physisch gehandicapt und mental verzweifelt wie James Caan in seiner Rolle als Wilkes Gefangener. Im direkten Vergleich zu Rob Reiners Leinwand-Umsetzung eines Stephen-King-Romans landet „Run“ allerdings nicht nur was die Originalität angeht auf einem weit abgeschlagenen zweiten Rang.
Ohne ihren Rollstuhl scheint Chloe erst recht aufgeschmissen...
Aber es gibt auch richtig positive Seiten: Neben der oft passend klaustrophobischen Atmosphäre im Inneren des Hauses sowie den beiden Hauptdarstellerinnen, die sichtlich und spürbar alles geben, wäre da noch speziell das großartige Sound-Design von P.K. Hooker („Der Unsichtbare“) zu nennen. Allein die eindringlichen Geräusche des Rollstuhls und des Treppenlifts, mit deren Hilfe allein sich Chloe innerhalb des Hauses bewegen kann, lassen es dem Zuschauer bereits eiskalt den Rücken herunterlaufen.
Auch das Produktions-Design von Jean-Andre Carriere („Martyrs“) ist erstklassig. „Run“ spielt in der Gegenwart, hat aber dank der Farben, Kulissen und Requisiten einen fast schon zeitlosen Look, der von der dezent eingesetzten, klassisch anmutenden Musik noch unterstrichen wird.
Fazit: Zwei exzellente Darstellerinnen und handwerkliche Pluspunkte vor allem in den Bereichen Ausstattung und Score können nur bedingt darüber hinwegtrösten, dass das Mutter-Tochter-Psychoduell in „Run“ im selben Moment zu konstruiert und zu gradlinig daherkommt.
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