Die alleinstehende Wiebke, die ein Ausbildungsgestüt für Polizeipferde betreut, entscheidet sich zusätzlich zu ihrem aus Bulgarien adoptierten Tochter Nika, noch ein weiteres Mädchen namens Raya aus Bulgarien zu adoptieren. Das kleine blonde Mädchen namens Raya ist niedlich, doch es dauert nicht lange bis sie eine zweite sehr unangenehme Persönlichkeit zeigt. Der Film, wie auch die kleine Schauspielerin, schaffen das so gut herüberzubringen, dass das psychologisch realistische Verhalten des Mädchens einen Schauer beim Zuschauer verursacht, ohne dass es dafür übernatürlicher Elemente bedürfte, wie in gewöhnlichen Horrorfilmen. Das entspricht leider nicht den Erwartungen des stereotypischen Horrorfilm-Konsumenten und so ist der Film an ein verständiges Publikum gerichtet, welches außerdem out-of-the-box denken kann.
Wenn man berufliche Erfahrungen mit solchen Kindern hat, dann lassen sich sofort ein paar typische Verhaltensweisen an dem Mädchen wiedererkennen. Raya versteckt Essen, wahrscheinlich weil sie Angst hat zu kurz kommen. Sie hat wohl Erfahrungen gemacht, dass man ihr Essen gestohlen hat oder man sie mit dem Entzug von Essen bestraft hat. Es fällt zudem auf, dass sie ohne wirklichen emotionalen Ausdruck ist, auch wenn sie das Gegenüber spiegeln kann. Das wirkt nicht wirklich empathisch und täuscht über die fehlende echte Empathie hinweg, es ist einfach nur ein Spiegeln und fällt dem flüchtigen Beobachter nicht auf. Bei Provokationen ist sie nicht zur Empathie oder zum Perspektivwechsel möglich, zeigt keine emotionale Regung. Negative bzw. hemmende Impulse scheinen jede Empathie oder Moral unmöglich zu machen, wie etwa bei Jack aus "Systemsprenger". Bei einem fünfjährigen Kind ist die Empathieentwicklung zwar noch auf einem niedrigen Stand, aber ein solch psychischer Schaden wie bei der Bindungsstörung oder dem Urvertrauen ist selbst in einem Alter von 5 Jahren schwer reparabel, weil es bereits zur Verkümmerung der Amygdala gekommen sein kann.
Wiebkes Ansatz ist ein sehr authentischer, empathischer und responsiver, im Prinzip also nach pädagogischen State-of-the-Art. Sie lässt Raya ankommen und sich emotional austoben, ausverwahrlosen, Sicherheit gewinnen, denn sie setzt zwar Regeln, aber reagiert humorvoll auf Verletzungen und Provokationen. Wiebke überträgt ihr Verhalten vom Umgang mit Pferden, die als Fluchttiere gelten, auf das Kind und kommt damit weiter als jeder andere zuvor. Zuerst muss eine Beziehungsbildung stattfinden, da solche Kinder und Jugendliche mangelndes Vertrauen haben und gewohnt sind, dass man sie sofort wieder los werden will. Sie haben Angst einen Fehler zu machen und weggeschickt zu werden, also kommunizieren sie auf diese Weise damit, dass sie Ansagen machen zu was sie fähig sind. Das klingt paradox, aber sie wollen die Reaktion des Gegenübers testen, ob dieser mit Gewalt oder Abscheu reagiert. Sie wollen Sicherheit gewinnen um das Verhalten von anderen einschätzen zu können. Wiebke reagiert genau richtig, ignoriert es am Anfang, macht Scherze, dann reagiert sie mit sanften Ansagen, um dem Gegenüber mitzuteilen, dass etwas unangenehm ist. Das tut sie aber nicht auf aggressive Weise oder mit Du-Vorwürfen und Verurteilungen. Es reicht dem Gegenüber eine Ich-Botschaft zu senden, wie man sich selbst fühlt. Der Tester will eine Sicherheit bekommen, dass es nichts falsch machen kann bzw. die Reaktion nicht gefährlich ist.
So weit so gut, das funktioniert bei leichten und mittelschweren Fällen von Dissoziation noch ganz gut, wodurch man Erziehungsziele und Entwicklungsschritte erreichen kann, aber bei Raya lassen sich keinerlei Reaktionen auf Ich-Botschaften erkennen - keine - also weder gehässig noch bedauernde. Dies ist schon ein Warnzeichen. Bei meiner praktischen Arbeit konnte ich einen Jungen in der Grundschule beobachten. Dieser hatte keine Probleme einen anderen Jungen über die Brüstung zu stoßen, wenn er nicht rechtzeitig gestoppt worden wäre. Auch wenn jemand sich verletzt hat und er daran Schuld war, hat man keine Gefühlsregung gesehen, kein Zweifel, keine Gewissensregung, einfach gar kein Gesichtsausdruck in seltenen Fällen einen subtilen Ausdruck der Genugtuung. Er reagierte genauso wenig auf Ich-Botschaften.
Raya soll nun in den Kindergarten. Hier merkt man ihr schon an, dass sie zögert und unsicher wirkt. Schon wieder soll sie woanders hin, kann man nicht davon ausgehen, dass die Bindung zwischen Raya und Wiebke überhaupt schon so sicher ist, dass Raya glaubt, dass Wiebke wieder zurückkommt. Weil das Kind schon 5 Jahre alt ist, kommt man in dem Kindergarten auch nicht auf die Idee eine Bindungs-Eingewöhnung zu machen, die über Wochen gehen kann. "Vielleicht ist sie noch nicht so weit" sagt Wiebke und schon springt Raya los zu den anderen Kindern, was nicht lange gut geht.
Auf eine sehr interessante Art verbindet der Film den pädagogischen Anspruch von "Systemsprenger" mit dem Horror von "Ich seh‘, ich seh‘", also die Verbindung von Horror und echten psychologischen Entwicklungsstörungen. Raya wurde im Alter von eineinhalb Jahren neben ihrer toten Mutter gefunden. Die Mutter war eine Prostituierte, die von einem Freier getötet wurde. Er hat das kleine Mädchen einfach neben ihr sitzen lassen, wo sie ein paar Tage danach gefunden wurde. Es ist also kein Wunder das Raya ein Trauma erlitten etwa durch eine Ohnmachtssituation wegen der Gewalt an der Mutter, die sie nicht stoppen konnte und weil sie nicht wusste, dass ihre Mutter daraufhin tot war. Sie fühlte sich von ihrer Mutter verlassen, weshalb das Urvertrauen beschädigt ist.
Ein Psychologe muss eingeschaltet werden. Wiebke versteht zwar die Erklärungen und Analysen des Psychologen, nimmt durchaus Erkenntnisse mit, aber sie nimmt die Warnungen nach einer professionellen Distanz nicht ernst. Wenn ein Kind erst einmal das Urvertrauen wegen dem Tod der primären Bindungsperson verloren hat, dann ist dies mit Hilfe der Mittel im Kinder- und Jugendhilfe-Systems schwer zu reparieren. Auf diese Weise entstehen sog. Systemsprenger. Auch das Urvertrauen von Jack in „Systemsprenger“ ist zerstört, weil die Mutter ihr Kind loswerden wollte, da sie der Situation nicht gewachsen war. „Systemsprenger“ und „Pelikanblut“ haben also mehr gemeinsam als es auf den ersten Blick scheint.
Weil das System der Familienhilfe hier sehr schnell an seine Grenzen gelangen kann, entscheidet Wiebke die Verantwortung ganz auf sich zu nehmen. Ihr Idee, das Urvertrauen Rayas durch Stillen wiederherzustellen und sie als Tragling auf dem Rücken zu tragen scheint sehr ungewöhnlich, doch genau das ist es, was beim Tod der primären Bindungsperson () für Raya verlorengegangen ist. Ich halte diese Therapieidee für eine, die tatsächlich Wirkung zeigen kann, weil sie die primäre Bindungsperson ersetzt und neues Vertrauen aufbaut, nur ist das Stillen und Tragen einer bereits 5-jährigen mit einem krassen körperlichen Einsatz für die Stillende verbunden. Ein anderes Problem ist, dass primäre Bindungspersonen nach dem ersten Lebensjahr eben nicht so einfach zu ersetzen sind.
Ich weiß nicht, ob es dazu Forschungen gibt, aber ich vermute keine, da man eine Person finden muss, die solche Strapazen auf sich nehmen muss. Die Strapazen spiegeln sich im metaphorischen Filmnamen wieder: "Pelikanblut" nimmt mit dem Titel Bezug auf Pelikane als häufig verwendetes Motiv der christlichen Ikonographie. So öffnet sich dieses Tier, nach dem frühchristlichen Überlieferungen, mit dem Schnabel die eigene Brust, um mit dem daraus tropfenden Blut die toten Jungen wieder ins Leben zurück zu holen. Dies kann als Allegorie für die aufopfernde Liebe und Glauben der Mutter gewertet werden.
Ein Pelikan. Am Ida litt mit seinen Jungen
Des Orkus Durst. Der Hyderzahn
Des Tods, mit dem sie lang gerungen,
Durchwühlt ihr Mark. Von Harm durchdrungen,
Sieht er verstummt die ganze Brut,
Mit hohlem Aug und heiserm Ächzen,
Nach einem Tropfen Wassers lechzen.
Itzt bricht sein Herz, voll schöner Wuth
Reißt er mit der gestählten Spitze
Des Schnabels eine tiefe Ritze
Sich in die Brust, und spritzt sein Blut
Den Kindern in die dürre Kehle
Sie trinken froh den Purpursaft
- Gottlieb Konrad Pfeffel
Ist Wiebkes Urvertrauen-Therapie nicht so unerhört genug, wendet sie sich noch an einer slawischen Schamanin namens Tanka. Man muss sich hier wirklich die Frage stellen, ob ein solches schamanistisches Ritual nicht wirklich einen therapeutischen Schlusspunkt setzen könnte. Natürlich widerspricht diese Herangehensweise jeder aufgeklärten wissenschaftliche Therapie, aber unter Umständen wurden dem Kind Rauschmittel verabreicht, die im Imstande sind die Amygdala zu stimulieren, also genau dort anzusetzen wo die Gehirne von Kindern mit gestörtem Urvertrauen neurologische Schäden aufweisen.
In den frühen schamanischen Kulten waren durchaus fundierte psychologische und psycho-pharmakologische Kenntnisse vorhanden, was auf keinen Fall dazu verleiten darf, sie der aufgeklärten Wissenschaft vorwegzunehmen, aber in einigen Fällen konnte man schamanisches Wissen von Medizinmännern im Amazonasgebiet, Afrika oder Neuguinea für die Entwicklung potenter Medikamente nutzen. Besonders Pilze scheinen unglaubliche Heilkräfte zu haben, beruht letztlich Penicillin auf dem Pilz des Mutterkorns. Es ist nicht auszuschließen, dass Raya Substanzen verabreicht wurden, entnommen aus der Natur, die entweder Amphetaminen oder LSD ähneln und heute in Form von Derivaten in der Psychiatrie schon als Psychopharmaka eingesetzt werden. Bestimmte Psychopharmaka können zwar das elektro-bio-chemische Gleichgewicht im Gehirn wiederherstellen, aber es braucht zusätzlich eine längere Therapie um ungünstige Verhaltens- und Denkmuster gegen vorteilhafte auszutauschen. Im Falle von Raya ist eine stabile primäre Bezugsperson eingesprungen, die zu dem Kind hält, egal was es getan hat.
Es ist schwierig ein Fazit über einen Film zu ziehen, der so unerhört am normalen Verständnis der meisten Menschen vorbeigeht und dabei die Schulmedizin sowie die Psychologie auszustechen scheint, obwohl die Erzählung eigentlich nicht gegen die Schulmedizin oder Psychologie ausgerichtet ist. Wie krass Kinder mit psychischen Störungen sein können zeigt „Systemsprenger“ noch so, dass es für Laien verständlich ist, aber auch ein Verhalten wie bei Raya in „Pelikanblut“, gibt es auch und wenn man solchen Kindern begegnet, kann das schon manchmal eine gruselige Atmosphäre erschaffen.