Mein Konto
    Utøya 22. Juli
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    0,5
    katastrophal
    Utøya 22. Juli
    Von Christoph Petersen

    Das Blutbad, das der rechtsextremistische Massenmörder Anders Breivik am 22. Juli 2011 auf der nahe Oslo gelegenen Insel Utøya unter den jugendlichen Teilnehmern eines Zeltlagers der sozialdemokratischen Arbeiterpartei anrichtete, forderte 69 Todesopfer und dauerte 72 Minuten. Nun hat der norwegische Regisseur Erik Poppe („The King’s Choice“) das Massaker in seinem Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Utøya 22. Juli“ verfilmt, in Echtzeit und in einer einzigen Einstellung ohne Schnitt. Seine Protagonisten sind fiktiv, die Geschehnisse aber Erzählungen der tatsächlichen Opfer nachempfunden. Nun kann man sich eh schon fragen, was das überhaupt soll, denn „Utøya 22. Juli“ funktioniert rein mechanisch zunächst einmal wie ein Horrorfilm – und sind damals wirklich 77 Menschen (acht starben bereits früher am Tag bei einem Bombenanschlag in Oslo) umgekommen, damit wir uns jetzt im Kino mal wieder so richtig schön gruseln können? Aber während die Idee für das Filmprojekt an sich schon völlig absurd ist, bereitet einen das nicht darauf vor, was für eine in Anbetracht des Themas verachtenswerte Ego-Show Erik Poppe hier abzieht.

    Man fragt sich den ganzen Film hindurch, warum man sich das an Grausamkeit kaum zu übertreffende Treiben eigentlich in dieser Echtzeit-Ausführlichkeit anschauen soll? Die Antwort liefert Poppe dann im Abspann, wenn er in einer Texttafel erklärt, dass ein Untersuchungsausschuss inzwischen festgestellt hat, dass die Behörden damals nicht gut genug auf einen solchen Fall vorbereitet gewesen seien. Okay, 72 Minuten Horrorshow als Polizeikritik? Das geben die Genreelemente gar nicht her, die hier allzu perfekt und oft sehr mechanisch funktionieren: Fast ohne Verschnaufpause hört man Schüsse, mal von nah dran, dann wieder von weiter weg, und selbst nach mehr als einer Stunde fährt einem davon jeder einzelne noch immer in Mark und Bein. Als reiner Horrorfilm wäre „Utøya 22. Juli“ wahrscheinlich ein Hit, aber als solchen soll, kann und darf man ihn nicht betrachten. Denn am Ende ist das alles kein politischer Kommentar und auch kein Ausdruck von Mitgefühl, sondern einfach nur verdammt gutes Sounddesign.

    Die Inszenierung in einer einzigen Einstellung mit wackelnder Handkamera ist ausgesprochen gut dafür geeignet, um das absolute Chaos und die vollkommene Orientierungslosigkeit auf der Insel nachzuempfinden. So sprechen die umherflüchtenden Teenager etwa immer wieder von „den Angreifern“, weil sich einfach niemand vorstellen kann, dass all die Schüsse von einer einzelnen Person stammen könnten. Zugleich zieht ein solcher Oneshot aber natürlich immer auch eine gewisse Aufmerksamkeit auf die Inszenierung - man fragt sich als Zuschauer, wie die das bloß alles hinbekommen haben, das muss doch schon rein logistisch ein unglaublicher Aufwand gewesen sein, schließlich bleibt die Kamera ja nicht an einem Ort, sondern fliegt an der Seite der rennenden Jugendlichen förmlich über die gesamte Insel. Aber okay, das allein hätte man ja noch schlucken können, selbst wenn ich beim Abwiegen der Vor- und Nachteile zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

    Aber Erik Poppe gibt sich nicht mit diesem zentralen Gimmick zufrieden, stattdessen versucht er immer wieder ganz besonders clever zu sein – und „clever“ sollte in diesem Fall wohl kaum das oberste Gebot sein. Nach kurzen dokumentarischen Aufnahmen des Bombenanschlags schaut die Protagonistin Kaja (liefert eine beeindruckende Tour-de-Force-Performance: Andrea Berntzen) in der allerersten Einstellung auf der Insel in die Kamera und sagt: „Du wirst es sowieso nicht verstehen. Höre mir einfach zu.“ Ein einleitender Kommentar zum kommenden Geschehen, ein Durchbrechen der vierten Wand? Nein, als sie ihren Kopf zur Seite dreht, sehen wir, dass sie gerade per Freisprechkopfhörer mit ihrer Mutter telefoniert. Wenige Augenblicke später hören wir hinter uns (also hinter der Kamera) ein Mädchen schreien. Geht das Massaker etwa schon los? Nein, es ist bloß Kajas Schwester Emilie (Elli Rhiannon Müller Osbourne), die gerade vom Schwimmen kommt und von ein paar Jungs geärgert wird. Ein Spannungstrick wie aus einem billigen Slasherfilm.

    Nach einem kurzen Gespräch am Waffelstand, bei dem Poppe und seine Drehbuchautoren Siv Rajendram Eliassen und Anna Bache-Wiig die Teenager noch schnell ein paar oberflächliche politische Kommentare austauschen lassen, bricht dann tatsächlich die Hölle auf der Insel los. Die ersten Minuten sind dabei so intensiv, vor allem die hallenden Schüsse, wenn sich die Jugendlichen zunächst in einer Hütte zu verschanzen versuchen, dass einem regelrecht schlecht wird vor Anspannung – wie gesagt, Horror kann Poppe. Nach der Flucht in den Wald wechselt die zuvor nur begleitende Kamera immer wieder auch in eine subjektive Perspektive, als wäre sie die Augen und Ohren des Publikums. Dann lugt sie etwa vorsichtig hinter Büschen und Sträuchern hervor. Mittendrin statt nur dabei!

    Aber die Gimmicks beschränken sich nicht nur auf die Spannungserzeugung, auch auf die Tränendrüsen hat Poppe es abgesehen. Nachdem ein junges Mädchen in Kajas Armen gestorben ist, klingelt das Telefon der Toten – Kaja schaut kurz aufs Display und legt das Handy dann auf die Brust des Mädchens, nah an ihr Herz. Eine eigentlich starke Szene, aber dann kann sich Poppe doch nicht beherrschen und die Kamera fährt doch noch einmal ganz nah an dem Handybildschirm vorbei, um auch dem letzten im Saal klarzumachen: Ja, das war gerade die Mutter der Toten, die angerufen hat. Als ob man zu diesem Zeitpunkt nicht längst verstanden hätte, was für eine ungeheure Grausamkeit hier gerade geschieht. Die Tragik wird trotzdem bis zum letzten Tropfen und darüber hinaus aus den Teenies herausgequetscht.

    Der Name Anders Breivik wird im gesamten Film nicht genannt, auch im Abspann wird der Täter nur als 33-jähriger Rechtsextremist bezeichnet. Auch sieht man ihn die meiste Zeit über nie, man hört nur konstant die Schüsse über die Insel hallen. Das ist zum einen verständlich, weil die Macher ihm natürlich mit ihrem Film nicht auch noch ein Denkmal setzen wollten, aber zugleich entsteht so eben auch der Eindruck, es handele sich bei ihm um eine übermenschliche Horrorgestalt. Ein wahrscheinlich unlösbares Dilemma und wenn man den Film schon so machen will, muss man sich halt für eine Seite entscheiden. Was man aber nicht machen muss, ist selbst noch einmal schwach zu werden und ihn dann kurz vor Schluss inkonsequenterweise doch noch zu zeigen, wie er da oben auf der Klippe in seiner schwarzen Kampfmontur wie ein Boogeyman steht. Wobei einen das zumindest auf das vorbereitet, was da gleich noch kommt – die letzten Sekunden des Films widmen die Macher nämlich allen Ernstes einem ebenso ironischen wie zynischen Schlusstwist. Eine solche unverschämte Gedankenlosigkeit haben weder die Opfer noch das Publikum verdient.

    Fazit: „Utøya 22. Juli“ ist stellenweise sicherlich ein ungemein effektiver Horror-Schocker - aber seinem Thema wird er in keiner Sekunde gerecht, weil Regisseur Erik Poppe sichtlich mehr an seinen ach so cleveren Inszenierungs-Gimmicks als an einer Haltung gegenüber dem schrecklichen Geschehen gelegen ist.

    Wir haben „Utøya 22. Juli“ bei der Berlinale 2018 gesehen, wo der Film im Wettbewerb gezeigt wird.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top