Der Begriff „hagussa“ stammt aus dem Althochdeutschen und bedeutet „Hexe“. Schon wegen seines Titels liegt es deshalb nahe, „Hagazussa – Der Hexenfluch“ mit Robert Eggers‘ atmosphärisch ähnlich kargem Independent-Hit „The Witch“ zu vergleichen, was aktuell in vielen Texten zum Regiedebüt des gebürtigen Österreichers Lukas Feigelfeld auch getan wird. Dabei wurde das Konzept für „Hagazussa“ schon lange entwickelt, bevor der vielbeachtete erste Trailer zu „The Witch“ das Netz im Sturm eroberte. Ganze vier Jahre dauerte es von der ersten Idee bis zum fertigen Film – inklusive einem Jahr Drehunterbrechung, weil die finanziellen Mittel zwischenzeitlich zur Neige gegangen waren.
Aber das Durchhaltevermögen des Filmstudenten und seines Teams hat sich gelohnt: Trotz der ständigen Vergleiche mit „The Witch“ hat der Regisseur und Drehbuchautor mit seiner düsteren Schauermär etwas durch und durch Eigenes geschaffen. Dabei kommen erst in den letzten zehn Minuten von „Hagazussa“ klassische Elemente des Horrorkinos zum Tragen. Die eineinhalb Stunden davor, die übrigens mit einer der markerschütterndsten Tonspuren der jüngeren (Horror-)Filmgeschichte unterlegt sind, begleitet das Publikum eine einsame Frau in der unheilvollen Abgeschiedenheit der Alpen beim langsamen Abdriften in den Wahnsinn. Das ist wahnsinnig effektiv (und auf grausame Weise wunderschön), auch wenn auf der Leinwand nicht besonders viel passiert.
Österreich im 15. Jahrhundert: In einer einsamen Berghütte in den Alpen lebt die junge Albrun (als Mädchen: Celina Peter) mit ihrer gebrechlichen Mutter (Claudia Martini), die von den Bewohnern des nahegelegenen Dorfes für eine Hexe gehalten und deshalb gemieden und beschimpft wird. Nach dem Tod der Mutter muss Albrun (als erwachsene Frau: Aleksandra Cwen) alleine klarkommen. Daran ändert sich auch nichts, als sie eine kleine Tochter zur Welt bringt. Möglichst fernab anderer Menschen kümmert sich Albrun um ihre kleine Ziegenherde und wird auf dem Weg zum Markt, wo sie ihre Milch verkauft, von den Jungen des Dorfes verspottet.
Als Albrun eines Tages vom örtlichen Pfarrer (Haymon Maria Buttinger) zu sich gebeten wird, hat dieser ein ungewöhnliches Geschenk für sie: Die junge Frau erhält den Schädel ihrer toten Mutter und nimmt ihn mit zu sich auf die Hütte. Plötzlich nimmt sie unheimliche Geräusche um sich herum wahr und wird zunehmend von verstörenden Visionen heimgesucht. Ist an den Beschuldigungen der Dorfbewohner womöglich doch etwas dran? Ist Albrun tatsächlich die Tochter einer Hexe (und damit vielleicht sogar selber eine)?
Wer sich nach all den Lobpreisungen der Kritiker „The Witch“ in der Erwartung angesehen hat, mal wieder richtig schön erschreckt zu werden, der hat das Kino vermutlich enttäuscht verlassen. Robert Eggers sorgte mit seiner Genreperle zwar für Verstörung, inszenierte seinen von den Renaissance-Gemälden Albert Dürers inspirierten Film aber bewusst ganz weit ab von „Conjuring“ und Co. Auf ähnlich anspruchsvoll-atmosphärischen Pfaden wandelt nun auch Lukas Feigelfeld, nur dass „Hagazussa“ eben nicht im Neuengland des frühen 17. Jahrhunderts spielt, sondern in den ähnlich kargen und unwirtlichen österreichischen Alpen des Spätmittelalters.
Auch hier entspringt aus der Abgeschiedenheit der atemberaubend fotografierten Naturkulisse die ultimative Beklemmung: Erst Albrun allein mit ihrer kranken Mutter, dann Albrun allein mit ihrer Babytochter – ganz auf sich gestellt in einer Umgebung, deren harsche Lebensfeindlichkeit als ständiges Grollen auch auf der Tonspur ihren Ausdruck findet. Jump Scares gibt es in „Hagazussa“ nicht. Stattdessen arbeitet Feigelfeld mit zwar bildgewaltigen, aber dennoch betont zurückgenommenen visuellen Mitteln Albruns wachsende Paranoia heraus, die sich nach und nach auf das Publikum überträgt, bis im Kinosaal schließlich auch ohne klassische Schreckmomente die blanke Panik herrscht (Horrorjunkies auf der Suche nach dem schnellen Gruselkick dürften hingegen zu diesem Zeitpunkt schon längst geflüchtet sein).
Nur in wenigen Szenen interagiert die wortkarge Frau überhaupt mit ihrem Umfeld – und das sind dann auch die schwächsten (weil am wenigsten subtilen) Momente, etwa wenn Albrun beim Wasserholen von den Dorfkindern als „Alte Hex!“ beschimpft wird. Viel effektiver ist es, wenn für die komplett auf sich allein gestellte Ziegenhirtin die Grenzen zwischen ihren Visionen (die oft mehr akustischer als visueller Natur sind) und der vermeintlichen Realität immer stärker verschwimmen. Wenn Albrun ihre verstorbene Mutter nachts rufen hört, ist das zu Beginn noch klar als Halluzination erkennbar. Aber spätestens, wenn sie den Totenkopf in der Hütte drapiert und von fortan regelmäßige Atemgeräusche und ein pulsierender Herzschlag aus der Ecke mit dem Schädel zu vernehmen sind, fragt man sich auch als Zuschauer, ob man es hier wirklich nur mit einer Psychose zu tun hat, oder ob die von Albrun unverständlich gemurmelten Verse die Verstorbene womöglich doch wieder zum Leben erweckt haben.
Mittels einer erschreckend unspektakulär anmutenden Vergewaltigungsszene, die uns völlig kalt erwischt hat, zeigt Feigelfeld mit einer abgründigen Beiläufigkeit, wie vogelfrei damals angebliche Hexen waren. Obwohl Albrun eine enge Verbindung zur Natur hat, sich mit Kräutern und Tieren gut auskennt, reproduziert Feigelfeld zudem angenehm wenige Hexenfilmklischees, sondern findet stattdessen einen ganz eigenen visuellen Zugang, was schließlich in einige Bildern mündet, die in ihrer Drastik unweigerlich an Darren Aronofskys „mother!“ erinnern, bis einem die allerletzte Einstellung dann endgültig den Boden unter den Füßen wegzieht.
Dass die Dreharbeiten zu „Hagazussa“ aus Budgetgründen sogar unterbrochen werden mussten, deutet an, wie wenig Geld den Verantwortlichen für die Realisierung des Projekts zur Verfügung stand. Aber auch ohne die Unterstützung der deutschen oder österreichischen Filmförderung, die dann eben doch lieber Komödien von der Stange statt herausragendes Horrorkino finanziert, ist Feigelfeld und seinem Team nach einer rettenden Crowdfunding-Kampagne ein visuell und akustisch atemberaubendes Stück Genrekino gelungen, das den Alpenschauplatz in teilweise minutenlangen Einstellungen vom postkartenwürdigen Panorama zum spröden Schauersetting verwandelt.
Abseits der sehr dosiert eingesetzten Filmmusik, die mehr einem dröhnenden Klangteppich gleicht, entspringt ein Großteil der Spannung dabei auch der intensiven Geräuschkulisse: Wenn hier Pilze sprießen, Bäche plätschern oder Feuer lodern, dann malträtieren die verstörend hochgejazzten Naturgeräusche regelrecht das Trommelfell des Zuschauers. Deshalb ist „Hagazussa“ auch ein Film, den man sich unbedingt im Kino oder zumindest mit einer extrem guten Dolby-Surround-Anlage ansehen sollte.
Fazit: „Hagazussa – Der Hexenfluch“ ist ebenso herausragendes wie ambitioniertes deutschsprachiges Horrorkino – atemberaubend schön und abgründig atmosphärisch.