Erst im September ist Erik Poppes „Utøya 22. Juli“, in dem der norwegische Regisseur das Massaker in einem Jugendcamp auf einer Insel in der Nähe von Oslo am 22. Juli 2011 in Echtzeit durchexerziert, in den deutschen Kinos angelaufen. Nun legt Netflix mit einer eigenen Produktion zu dem verheerenden Terror-Anschlag nach, die ihre Weltpremiere im Wettbewerb der Filmfestspiele in Venedig gefeiert hat: Regisseur Paul Greengrass ist zwar inzwischen vor allem für seine herausragenden „Bourne“-Blockbuster berühmt, aber bekannt geworden ist er mit Filmen wie „Bloody Sunday“ oder „Flug 93“, in denen er tragische Ereignisse mit einem größtmöglichen Maß an Authentizität nachzustellen versucht.
Mit „22. Juli“ geht er nun noch einen Schritt weiter. Er zeigt nämlich nicht nur den Anschlag auf das Feriencamp, bei dem 69 Menschen ermordet wurden, sondern auch die Folgen der Tat inklusive des Prozesses gegen den Täter und der Versuche der Überlebenden, zu einem Mindestmaß an Normalität zurückzufinden. Diese erzählerische Breite hat zwar zur Folge, dass „22. Juli“ nie die Intensität von eben „Flug 93“ und „Bloody Sunday“ erreicht, aber dafür deutet er mit seinem vielschichtigen Ansatz an, welche weitreichenden traumatischen Folgen das Attentat hatte – und zwar nicht nur für die Opfer und ihre Angehörigen, sondern für eine ganze Nation.
Oslo, 21. Juli 2011: Während Anders Breivik (Anders Danielsen Lie) die letzten Vorbereitungen für seinen perfiden Anschlagsplan trifft, reisen die Jugendlichen auf der Insel Utøya an, wo sie den Sommer in einem Ferienlager der sozialdemokratischen Partei verbringen wollen. Unter ihnen befinden sich auch Viljar (Jonas Strand Gravli) und sein kleiner Bruder. Früh am nächsten Morgen zündet Breivik eine Bombe im Politikviertel Oslos und fährt anschließend nach Utøya, wo er 69 überwiegend junge Menschen ermordet. Viljar überlebt schwerverletzt und findet in den Monaten nach der Tat nur langsam ins Leben zurück, während Breivik im Gefängnis auf seinen Prozess wartet, den er als große Bühne nutzen will, um seine islamfeindliche Botschaft weiter zu verbreiten…
Eigentlich hätte man von Paul Greengrass eher einen Film wie „Utøya 22. Juli“ erwartet, also eine hyperkinetische Nachstellung des Attentats, die mit wackeliger Handkamera stets ganz nah bei den Opfern ist. Mit einem solchen ästhetischen Authentizitäts-Ansatz hat er schließlich in „Flug 93“ auch die Ereignisse an Bord eines der am 11. September entführten Flugzeuge nachgestellt – und auch seine „Bourne“-Filme leben von solchen mitreißenden Ganz-nah-dran-Szenen. In „22. Juli“ finden sich solche Momente jedoch kaum. Der Anschlag selbst wird in wenigen Minuten geschildert, schon nach einer halben Stunde ist Breivik verhaftet und Norwegen in seinem liberalen Selbstverständnis erschüttert. Der Fokus von Greengrass‘ Film liegt also klar auf dem Danach. Ein deutlicher Bruch mit den bisherigen Erzählmustern des britischen Regisseurs, der aber dennoch penibel darauf achtet, nicht selbst eigene Interpretationen oder Psychologisierungen in das Geschehen einzubringen.
Die erzählte Zeit in „22. Juli“ umfasst ein gutes Jahr, sie reicht vom Attentat bis zur Urteilsverkündung im Prozess gegen Breivik, der im August 2012 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Scheinbar ungerührt nimmt Breivik, so wie ihn Anders Danielsen Lies ihn verkörpert, dieses Urteil zur Kenntnis, unerschüttert in seinem Glauben, mit seinem Anschlag ein Zeichen gegen die in seinen Augen zunehmende Überfremdung der norwegischen Gesellschaft gesetzt zu haben. Offensichtliche Bezüge zu vielen anderen Nationen, Strömungen und Parteien lassen sich hier erkennen, fast schon unweigerlich muss man bei Breiviks Rhetorik an all die Populisten in westlichen Ländern denken, die in den vergangenen Jahren immer mehr Auftrieb bekommen haben.
Das ist der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Utøya-Filmen: Während Poppes „Utøya 22. Juli“ nur zeigt und sich dezidiert jeder Analyse entzieht, versucht Greengrass mit dem breiten Bogen, den er in „22. Juli“ schlägt, Ursachen und Folgen des Anschlages herauszuarbeiten und zu verstehen. Die größte Herausforderung dabei ist natürlich, Breivik und seiner Ideologie keine Plattform zu geben. Zu verstehen, aber nicht zu verharmlosen oder gar zu rechtfertigen. Was für ein heikler, schmaler Grat das ist, merkt man dem Film auch an, wenn er sich oft übervorsichtig durch die Ereignisse bewegt und immer wieder bewusst viel Zeit mit den Opfern verbringt, selbst wenn dies dramaturgisch an dieser Stelle weniger ergiebig ist. Es ist der beeindruckenden Präsenz des Debütanten Jonas Strand Gravli in der Rolle des Überlebenden Viljar zu verdanken, dass die Gegenüberstellung von Täter und Opfer gelingt, wobei der eine mit eingebildetem und der andere mit tatsächlichem Unrecht umgehen muss. Das ist deutlich didaktischer und weniger nahe dran als bei anderen Greengrass-Filmen. Aber es ist vielleicht der einzige mögliche Ansatz, sich der grausamen Tat anzunähern.
Fazit: Weniger unmittelbar und stärker didaktisch als in seinen früheren Filmen beschreibt Paul Greengrass in „22. Juli“ einen Norwegen in seinen Grundfesten erschütternden Anschlag und seine Folgen.