Der Titel ist eine Mogelpackung, der Film ein Meisterwerk
Von Björn BecherSpätestens seit seinem den Kapitalismus sezierenden Öl-Epos „There Will Be Blood“ mehren sich die Stimmen, die den Perfektionisten Paul Thomas Anderson zwar als Genie anerkennen, ihm aber zugleich auch übertriebene Ambitionen vorwerfen. Schließlich resultiert aus der formalen Strenge des „Magnolia“-Regisseurs oft auch eine gewisse Sperrigkeit, die ein Teil des Publikums durchaus auch erst einmal abschrecken kann (bestes Beispiel: „The Master“). Zudem hat sich Anderson bei seinen groß gedachten Erzählungen zuletzt immer weiter von seiner kalifornischen Heimat entfernt, mit „Der seidene Faden“ sogar das erste Mal einen Kinofilm außerhalb der USA gedreht.
„Licorice Pizza“ ist deshalb auch eine Rückkehr - nämlich ins San Fernando Valley am Rand von Los Angeles, wo Anderson nicht nur aufgewachsen ist, sondern auch heute noch lebt und wo seine früheren Filme wie „Boogie Nights“, „Magnolia“ und „Punch-Drunk Love“ spielen. Dabei wirkt das mit jeder Menge lokalen Zeitkolorit aufgeladene Coming-Of-Age-Drama wie die kleinere, aber irgendwie auch nettere Schwester von „Once Upon A Time... In Hollywood“. „Licorice Pizza“ entwickelt eine geradezu unverschämte Leichtigkeit – wieder absolut brillant inszeniert, reißt er weniger durch die großen Gesten von prominenten Gaststars wie Bradley Cooper oder Sean Penn, sondern vor allem durch kleine Erzählungen voller Wärme und Humor mit.
Sean Pean hat - wie auch Bradley Cooper - einen großen Auftritt, spielt aber eine kleine Rolle.
1973: Der 15 Jahre alte Gary Valentine (Cooper Hoffman) ist bereit, sein Bild für das High-School-Jahrbuch schießen zu lassen, als er die Foto-Assistentin Alana Kane (Alana Haim) erblickt. Obwohl sie zehn Jahre älter ist, überredet der pickelige und moppelige, aber deshalb kein bisschen weniger selbstbewusste Teenager sie zum Abendessen in seinem Stammrestaurant. Bezahlen ist für ihn kein Problem, denn als Kinderschauspieler ist er schon in einigen Filmen und Werbespots aufgetreten, zudem hat er als angehender Entrepreneur bereits seine eigene PR-Firma gegründet.
Alana besteht zwar darauf, dass das Abendessen schon allein aufgrund des deutlichen Altersunterschiedes kein Date ist. Und tatsächlich: Als sie Gary kurz darauf als Anstandsdame statt seiner verhinderten Mutter zum Dreh einer TV-Show nach New York begleitet, bandelt sie erst einmal mit Garys älterem Kollegen Lance (Skyler Gisondo) an. Doch das hält nicht lange, während sich die Wege von Gary und Alana, die u. a. ein gemeinsames Wasserbett-Geschäft aufziehen, immer wieder kreuzen...
Ein Vergleich mit dem von Anderson immer wieder öffentlich als „das großartigste Meisterwerk“ angepriesenen „Once Upon A Time... In Hollywood“ liegt auf der Hand. Schließlich spielt der teilweise auch im Valley angesiedelte Film von Quentin Tarantino nur vier Jahre früher - und auch in „Licorice Pizza“ spielt die Filmindustrie zumindest an den Rändern immer wieder eine Rolle: Während Anderson den egozentrischen Frisör, Produzenten und Streisand-Liebhaber Jon Peters (Bradley Cooper) sogar unter seinem realen Namen auftreten lässt, sind sowohl der nur noch in alten Dialogzeilen kommunizierende Abenteuerfilmstar Jack Holden (Sean Penn) sowie die aufbrausende Schauspielerin Lucy Doolittle (Christine Ebersole) schnell als Variationen von William Holden bzw. Lucille Ball zu identifizieren.
Anderson lässt in diesen Episoden Cooper, Penn und Ebersole dem Affen so richtig Zucker geben. Das ist komisch, wenn auch ganz sicher wenig schmeichelhaft für die von ihnen verkörperten Hollywood-Größen. Denn die sind hier allesamt ziemliche Arschlöcher – und darüber hinaus eh nur Randfiguren in der Geschichte von Gary und Alana. „Licorice Pizza“ ist ein Film voller Mini-Episoden – und man könnte wahrscheinlich auch erst in der Mitte der Kinovorführung auftauchen und hätte trotzdem direkt Spaß mit dem nächsten Erlebnis der unwahrscheinlichen Leinwandhelden. Dabei ist es trotzdem erst der rote Faden hinter all diesen zufällig erscheinenden Begegnungen und Ereignissen, der „Licorice Pizza“ erst in die Meister-Liga katapultiert.
Dass Alana einen Führerschein hat, ist für Garys Geschäftsideen sehr hilfreich.
Man könnte meinen, „Licorice Pizza“ sei vor allem Garys Film. Schließlich ist die Erzählung auf den ersten Blick um seine ständigen, meist sogar erfolgreichen Unternehmungen als Teenager-Entrepreneur gestrickt. Viele der Erlebnisse sind beeinflusst vom Leben des späteren Erfolgsproduzenten Gary Goetzman („Das Schweigen der Lämmer“), der als Kinderstar ebenfalls Teil der Besetzung der auch hier zitierten Komödie „Deine, meine, unsere“ um eine Patchwork-Großfamilie war. Dass Anderson im Abspann dann aber Alana zuerst zeigt, ist sicherlich kein Zufall. Denn in Wahrheit ist „Licorice Pizza“ vor allem ihr Film.
Bis man das erkennt, dauert es aber ein wenig. Dafür gibt es eine ganz wunderbare Einführung der Figuren, die all das sind, was man von den (romantischen) Helden einer Hollywoodproduktion eben gerade nicht erwartet: Schon mit 15 tritt Gary so auf, als wüsste er alles. Da seine Mutter (für seine PR-Firma) ständig auf Reisen ist, organisiert er sein Leben selbst und hat laufend neue Geschäftsideen. Wenn Gary einen Wasserbetten-Versandhandel aufzieht oder eine Pinball-Spielhalle eröffnet und dabei auch noch seinen noch jüngeren Bruder sowie weitere minderjährige Freunde beschäftigt, wird das Alter der Beteiligten nie hinterfragt. Alle Erwachsenen akzeptieren Gary, weil er das Selbstbewusstsein eines gemachten Mannes ausstrahlt, dem in seinem – bereits aus „Magnolia“ bekannten – Stammrestaurant ganz natürlich sofort sein vertrauter Tisch zugewiesen wird, obwohl er noch nicht einmal Alkohol bestellen darf.
Alana weiß dagegen nicht, was sie will. Obwohl sie bereits Mitte 20 ist, lebt sie noch bei ihren Eltern und ist stetig auf der Suche. Sie lässt sich auf Gary auch deshalb ein, weil sie mit ihm neue Dinge erlebt. Obwohl Cooper Hoffman, Sohn des 2014 verstorbenen Oscargewinners und Paul-Thomas-Anderson-Stammschauspielers Philip Seymour Hoffman, hier ebenfalls ein eindrucksvolles Schauspieldebüt abliefert, ist Alana Haim die absolute Entdeckung des Films (wenn nicht gar des Kinojahres). Das Mitglied der Indie-Rock-Schwesternband HAIM, für die Anderson bereits mehrere Musikvideos inszenierte, hat eine unfassbar natürliche Leinwandpräsenz. Gleichzeitig schlagfertig und verletzlich ist ihre Alana das laut schlagende Herz von „Licorice Pizza“.
Zwar beäugen sich beide wechselseitig eifersüchtig, wenn der jeweils andere mit einer potenziellen Liebschaft auftaucht. Aber am Ende ist es vor allem Alana, die dabei eine Entwicklung durchmacht. Während Gary nur von einer Geschäftsidee zur nächsten springt, läuft sie umher, um langsam ihren Platz im Leben zu finden – und das Laufen ist dabei durchaus buchstäblich zu verstehen: Immer wieder begleitet die nicht nur in einigen herausragenden Plansequenzen von Paul Thomas Anderson und Michael Bauman brillant geführte Kamera die beiden, wie sie gemeinsam oder alleine die Straßen eines in träumerische Farben getauchten Los Angeles der Siebzigerjahre entlangsprinten.
Rennen immer wieder durch das Valley: Gary und Alana.
Der durchweg erstklassig ausgewählte Soundtrack eröffnet bei dieser Rennerei sogar bisweilen noch eine weitere Ebene: Wenn ausgerechnet rund um die Öl-Krise mit den Bildern von langen Schlangen an der Tankstelle David Bowies Klassiker „Life On Mars?“ erklingt, dann kann man in die Textzeilen „It's on America's tortured brow that Mickey Mouse has grown up a cow“ natürlich plötzlich noch viel mehr als ohnehin schon hineinlesen. Allerdings verstand auch Bowie seinen Song immer als Liebeslied – und so kommentiert er nicht nur den absurden Stillstand auf den Straßen, sondern auch das Gefühlschaos zwischen Gary und Alana.
Denn das steht immer im Vordergrund. Anderson zeigt zwar nicht nur prägende gesellschaftliche Ereignisse wie die Öl-Krise, sondern neben den absurden Starauftritten auch noch Momente von Sexismus, Rassismus und Homophobie. „Licorice Pizza“ ist wie „Once Upon A Time... In Hollywood“ ein unverhohlen-nostalgischer Liebesbrief an eine bestimmte Ära in Los Angeles, aber im selben Moment trotzdem keine unreflektierte Verklärung. Romantisiert werden nur die beiden Hauptfiguren, die uns durch diesen so wunderbar-leichten wie warmherzig-berührenden Coming-Of-Age-Film tragen und dabei eine völlig aus dem Rahmen fallende Liebesgeschichte erzählen, die so sehr mitreißt, dass jede Diskussion über den Altersunterschied ohnehin weggefegt wird.
Fazit: „Licorice Pizza“ mag auf den ersten Blick weniger ambitioniert als andere Filme von Paul Thomas Anderson wirken. Aber das ist ein voreiliger Trugschluss. Stattdessen gelingt dem Regisseur ein weiterer ganz großer Wurf – nur diesmal eben mit Freiheit, Komik und Herz statt inszenatorischer Strenge.
P.S.: Die im Titel versprochene Lakritz-Pizza wird übrigens nie serviert – oder auch nur erwähnt. Allgemein wird der Titel, der in Wirklichkeit auf eine Plattenladen-Kette aus Andersons Jugend anspielt, nie erklärt. Anderson nutzte ihn einfach nur, weil er ihn cooler als die ursprüngliche Idee „Gary & Alana“ fand.