In der Manier eines schüchternen kleinen Schuljungen hat sich der Luzerner „Tatort“-Kommissar Reto Flückiger in den vergangenen Jahren stets davor gedrückt, auch nur irgendein nennenswertes Detail über seine Freundin mit seiner Kollegin Liz Ritschard und den „Tatort“-Zuschauern zu teilen. Zuletzt erfuhren wir im „Tatort: Freitod“ dann zumindest mal ihren Namen: „Eveline! Ja, Eveline!“ rief der Ermittler in der abschließenden Szene des Films – am Ende blieb dieses Mini-Geständnis aber allenfalls eine Randnotiz in einem enttäuschenden Sterbehilfe-Krimi. In Tobias Ineichens „Tatort: Kriegssplitter“ rückt Eveline nun ins Zentrum: Flückigers Flamme kommt bei ihrem ersten (und wahrscheinlich letzten) Auftritt eine Schlüsselrolle zu, weil sie in einer gemeinsamen Nacht mit dem Kommissar zur wichtigen Augenzeugin wird und der Kommissar wohl oder übel Farbe bekennen muss. Es ist nicht die einzige gute Idee der Filmemacher - der elfte Einsatz des Schweizer Ermittlerduos gehört auf jeden Fall zu seinen besseren.
Hauptkommissar Reto Flückiger (Stefan Gubser) trifft seine Freundin Eveline Gasser (Brigitte Beyeler) auf ein Schäferstündchen im Luzernerhof. Doch ihr romantischer Moment der Zweisamkeit auf dem Hotelbalkon wird jäh unterbrochen: Ein Investigativjournalist stürzt durch das Fenster im Stockwerk darüber, kracht in ein parkendes Auto und ist auf der Stelle tot. Flückiger muss seiner Kollegin Liz Ritschard (Delia Mayer) und Kriminaltechnikerin Corinna Haas (Fabienne Hadorn) sein Verhältnis zu der verheirateten Frau gestehen und seine Beobachtungen zu Protokoll geben. Der Tod des Reporters steht offenbar im Zusammenhang mit dessen Berichten über die Tschetschenienkriege: Ins Visier der Ermittler gerät der mutmaßliche Kriegsverbrecher Ramzan Khaskhanov (Jevgenij Sitochin), der unter falschem Namen in Luzern ein neues Leben angefangen und dort jahrelang mit seiner ahnungslosen neuen Frau Ena Abaev (Natalia Bobyleva) zusammengelebt hat. Nun sind nicht nur der russische Geheimdienst und der tschetschenische Auftragskiller Pjotr Sorokin (Vladimir Korneev) hinter ihm her, sondern auch seine aus Grosny geflüchtete Nichte Nura Achmadova (Yelena Tronina) und deren Bruder Nurali Balsiger (Joel Basman), bei dem sie sich einquartiert hat...
Rein thematisch hätte der „Tatort: Kriegssplitter“ auch gut nach Österreich oder Norddeutschland gepasst: In der Regel sind es im „Tatort“ die Wiener Ermittler Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser) oder die Hamburger Bundespolizisten Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) und Julia Grosz (Franziska Weisz), die sich mit internationalen Verstrickungen, dem organisierten Verbrechen oder terroristischen Bedrohungen auseinandersetzen müssen. Dem Schweizer „Tatort“ steht die politisch angehauchte Geschichte von Drehbuchautor Stefan Brunner („SOKO Donau“) aber gut zu Gesicht, was auch daran liegt, dass im Präsidium alle an einem Strang ziehen: Regierungsrat Eugen Mattmann (Jean-Pierre Cornu) schlägt sich diesmal klar auf die Seite seiner Ermittler, erkennt im kühlen russischen Abgesandten Michail Koslow (Ivan Shvedoff) einen gemeinsamen Feind und verzichtet darauf, den eigenen Leuten aus Angst vor diplomatischen Schwierigkeiten Knüppel zwischen die Beine zu werfen.
Trotz einiger stereotyper Figuren wirkt im Schweizer „Tatort“ diesmal vieles eine Ecke eleganter und dynamischer als gewohnt, und auch für Spannung ist gesorgt: Schon der einleitende Fenstersturz des Journalisten auf das parkende Auto ist ein scheppernder Hallo-Wach-Moment. Im weiteren Verlauf der Geschichte drückt Regisseur Tobias Ineichen („Clara und das Geheimnis der Bären“), der seinen vierten Schweizer „Tatort“ inszeniert, immer wieder aufs Tempo – dazu wummern Elektrobeats, die fast an einen Werbespot erinnern und die beunruhigende Atmosphäre gezielt verstärken. Stark arrangiert ist auch eine zufällige Begegnung zwischen Flückiger und Auftragskiller Sorokin (eiskalt: Vladimir Korneev, „Kundschafter des Friedens“), die an derselben Ampel halten, ohne einander wahrzunehmen – hinzu kommen einige knackige Actionsequenzen, wie man sie in den Krimis aus Luzern bisher nicht häufig erlebt hat. Eher bemüht wirkt allerdings die Szene, in der sich Ritschard nach Flückigers Beziehungsstatus erkundigt („Was läuft eigentlich an der anderen Front?“): Die Absicht der Schweizer „Tatort“-Macher, ihren Figuren nach sechs gemeinsamen Jahren endlich mehr Tiefgang zu verleihen, tritt hier überdeutlich zutage.
Auch die holprige Synchronisation der schwyzerdütschen Originalfassung des Krimis trägt ihren Teil dazu bei, dass der 1013. „Tatort“ mitunter etwas gekünstelt wirkt – und ob tschetschenische Migranten in der Realität untereinander fast ausschließlich gebrochenes Deutsch sprechen würden, darf zumindest stark bezweifelt werden. Als klassische Whodunit-Konstruktion zum Miträtseln funktioniert der „Tatort: Kriegssplitter“ aber passabel: Die Auflösung der Täterfrage wird bis in die Schlussminuten offengehalten und dürfte nicht wenige Zuschauer überraschen. Einmal mehr bedienen sich die Filmemacher dabei eines relativ plumpen Drehbuchkniffs: Ähnlich wie im Dortmunder „Tatort: Eine andere Welt“ von 2013 oder im Ludwigshafener „Tatort: Du gehörst mir“ von 2016 wird ein entlarvendes Video von den Kommissaren erst kurz vor Schluss überprüft, obwohl man es bei etwas genauerem Hinsehen schon deutlich früher hätte entdecken können. Hier wird der Dramaturgie auf Kosten der Glaubwürdigkeit auf die Sprünge geholfen – das ist aber gerade angesichts der ansonsten eher selten überzeugenden Beiträge aus der südlichsten aller „Tatort“-Städte nur ein Schönheitsfehler.
Fazit: Tobias Ineichens „Tatort: Kriegssplitter“ ist ein solider Krimi aus Luzern – und eine Steigerung gegenüber den sonst oft enttäuschenden Schweizer Beiträgen der vergangenen Jahre.