Ein Flugzeug weit oben am Himmel, widergespiegelt in einer Pfütze aus Wischwasser. Das Hohe und das Niedere, vereint im selben Augenblick. Mit diesem Bild beginnt „Roma“ von Alfonso Cuarón - und so funktioniert das poetische Drama des mexikanischen Regisseurs auch im weiteren Verlauf. Der diesjährige Siegerfilm bei den Filmfestspielen von Venedig lebt von visuellen und erzählerischen Kontrasten. Vorder- und Hintergrund, Detail und Panorama, Einzelschicksal und Weltgeschichte.
Im Zentrum der Ereignisse steht das junge Kindermädchen Cleo (Yalitza Aparicio). Sie betreut die vier Kinder einer wohlhabenden Familie aus Mexiko-Stadt. Die Jahre 1970 und '71 bringen für den gesamten Haushalt große politische und persönliche Veränderungen mit sich. Der Familienvater verschwindet plötzlich und lässt Frau und Kinder zurück. Mutter Sofía (Marina de Tavira) fällt es schwer, sich auf die neue Situation einzustellen. Währenddessen wird die Stadt von Unruhen erschüttert. Als ein Demonstrant von Paramilitärs getötet wird, eskaliert die Gewalt…
Das Familien- und Zeitporträt basiert teilweise auf Jugenderfahrung des Regisseurs und wird wie eine Sammlung von Anekdoten erzählt. Die Bilder sind in schwarz-weiß gehalten, wodurch der Film manchmal wie eine nostalgische Erinnerung wirkt. Es gibt eine durchgehende Handlung, doch viele Episoden würden auch für sich stehend funktionieren. Als Kurzfilme zum Beispiel. Cuarón ist im besonderen Maße von der Möglichkeit fasziniert, durch Kamerabewegungen zu erzählen. Wie schon in „Children Of Men“ oder „Gravity“ ist sein zentrales Gestaltungselement auch diesmal die Plansequenz. Immer wieder wird auf Schnitte verzichtet, um vollständige Szenen in einer einzigen Einstellung ablaufen zu lassen.
Das Ergebnis sind hochkomplexe Choreographien mit aufwändigen Kamerafahrten, zahllosen Figuren in Bewegung und einer Vielzahl von Ereignissen. Eine längere Sequenz zeigt einen Waldbrand. Menschen eilen heran, versuchen die Situation zu begreifen und verfallen in hektische Aktivität. Einige tragen noch Kostüme, sie kommen gerade von einer Party. Zuletzt verharrt die Kamera bei einem Mann, der ein melancholisches Lied anstimmt. Plötzlich bekommt der Moment etwas Tragikomisches. Die Kamera begleitet nie nur die reine Handlung, sondern auch die emotionale Verschiebung der Szene. In einer anderen Sequenz spielen Cleo und eines der Kinder miteinander. Beide werden dabei „erschossen“ und lassen sich auf den Rücken fallen. Die Kamera fährt nach oben, als würden ihre Seelen davonschweben. Das Gespielte wird wahr, zumindest in der Poesie des Films.
Statische Einstellungen erforschen Orte und Landschaften, sie fangen das wilde Treiben auf den Straßen von Mexiko-Stadt ein. Die Protagonistinnen muss man dabei in den Menschenmassen oft erst einmal suchen. Die Bilder sind so detailreich, dass es an Reizüberflutung grenzt. Einmal ist eine gewaltige Krabben-Statue das unauffälligste Element. Selbst am fernen Horizont lassen sich noch kleine Spielereien entdecken. Seinen Kriegsfilm „Dunkirk“ nannte Christopher Nolan „Virtual Reality ohne Brille“. Eine Beschreibung, die auch auf „Roma“ zutrifft. Der Film zielt auf die Immersion des Publikums ab, es soll tief in der Leinwandwelt versinken. Lange Einstellungen erwecken oft den Eindruck, man würde ein Ereignis unmittelbar miterleben.
Bei VR-Erfahrungen wählt der Zuschauer den Bildausschnitt und kann selbst entscheiden, welche Ereignisse er näher verfolgt. Auch in „Roma“ werden oftmals mehrere Geschichten gleichzeitig erzählt. Cleo geht ins Kino und offenbart ihrem Date eine überraschende Nachricht. Im Vordergrund läuft das Gespräch ab. Einige Reihen weiter vorne sitzt ein befreundetes Paar, ganz vorne ist auf der Leinwand die Louis-de-Funès-Komödie „Die große Sause“ zu sehen. Die Reize und Emotionen der verschiedenen Ebenen heben einander nicht auf, sondern verstärken sich. Natürlich wird der Blick gelenkt, etwa durch das Licht- und Sounddesign, doch in manchen Szenen wird dem Zuschauer eine gewisse Freiheit gelassen. Cuaron erschafft eine Welt, in der nie nur eine Geschichte erzählt wird, sondern jedes Ereignis eines unter vielen ist.
Die Story von „Roma“ schreit geradezu nach einem kleinen Arthouse-Film. Aber Cuarón legt hier eine ähnliche technische Grandiosität an den Tag wie bei seiner Weltraum-Extravaganz „Gravity“. Auf einer rein handwerklichen Ebene ist „Roma“ deshalb über jeden Zweifel erhaben. Viele Szenen verlangen von den Darstellern sehr präzises Timing. Wenn Cleo zu Beginn des Films das Haus aufräumt, rotiert die Kamera dabei mit gleichmäßigem Tempo. Die Darstellerin vollführt jede Bewegung genau im richtigen Tempo, um Schritt zu halten. Die Menschen arbeiten in solchen Situationen weniger vor, als vielmehr für die Kamera.
Das könnte man als Widerspruch verstehen: Wieso werden selbst kleine, intime Momente so aufwändig inszeniert? Stört das nicht die Natürlichkeit, auf die abgezielt wird? Doch Cuaróns pompöser Stil passt gut zum Thema des Films. Genau wie die Figuren in den Sog großer historischer Ereignisse geraten, werden sie auch von der Kamera mitgerissen. Der Regisseur ist in seiner Filmwelt eine unsichtbare Kraft, als würde er selbst eine Rolle spielen: die der Weltgeschichte.
Auch das stellenweise sehr brachiale Sounddesign trägt zu diesem Eindruck bei. Es macht ohnehin große Bilder monumental. „Roma“ ist gleichzeitig Arthouse- und Überwältigungskinos. Der Klang von Straßenschlachten oder hochschlagenden Ozeanwellen wirkt erdrückend. Übermächtig. Interessant wird der Film besonders dort, wo sich die Figuren all diesen Kräften widersetzen. Manchmal verschwinden sie aus dem Bild oder gehen im Chaos verloren. Weil die Inszenierung oft weit im Vordergrund steht, kann er etwas mechanisch wirken. Solche Überraschungen wirken diesem Eindruck entgegen. Auch die Darsteller selbst wissen zu überzeugen. Yalitza Aparicio spielt Cleo mit jugendlicher Lebensfreude, ohne je naiv zu wirken. Selbst einigen sehr melodramatischen Situationen verleiht sie eine Erdung.
In Erinnerung bleibt auch Jorge Antonio Guerrero als ihr Kung Fu trainierender Freund Fermín. Seine nackten Kampfsportmanöver zählen zu den vielen humoristischen Momenten, die verhindern, dass die Ereignisse sich nur schwer und ernst anfühlen. „Roma“ ist, dem düsteren Material zum Trotz, leicht und beschwingt. Manchmal fast schwerelos, eine Achterbahnfahrt durch Alltägliches und Epochales. Dass die meisten Zuschauer den Film wohl auf Netflix und damit nur auf dem Fernseher genießen werden können, wirkt befremdlich. „Roma“ ist so offenkundig für das Kino gemacht wie kaum ein anderer Film der vergangenen Jahre. Nicht nur durch seine audiovisuelle Gewalt, sondern auch weil er so verliebt ist in Menschenmassen, in gemeinsame Erfahrungen. Wo auf der Leinwand alles zwischen Himmel und Erde gezeigt wird, sollte man davor nicht allein sein.
Fazit: „Roma“ ist ein Film, wie es wenige gibt. Ein intimer Blockbuster, ein titanisches Kleinod. Alfonso Cuaróns neuestes Meisterstück erdet den visuellen Ideenreichtum mit tief empfundener Menschlichkeit und einem Hauch Poesie. Ein Ereignis.