Regisseur Greg Berlanti feierte sein Langfilmdebüt bereits im Jahr 2000 mit dem Geheimtipp „Der Club der gebrochenen Herzen“ – eine melancholische Tragikomödie rund um eine Gruppe von homosexuellen Freunden in West-Hollywood. Mit ein Grund für seine erzählerische Feinfühligkeit: Berlanti ist selbst schwul, was man vor allem dem gleichermaßen selbstverständlichen wie einfühlsamen Umgang mit der Sexualität seiner Protagonisten anmerkt. Nach diversen Drehbüchern für Mainstream-Serien wie „Flash“ und „Arrow“ sowie der enttäuschend schematischen RomCom „So spielt das Leben“ kehrt Berlanti mit seinem neuesten Projekt nun zu seinen Ursprüngen zurück – ein Glücksfall!
Seine Buchadaption „Love, Simon“ ist der erste Studiofilm mit einem homosexuellen Teenager als Hauptfigur überhaupt – kein Scherz, dafür hat es tatsächlich bis zum Jahr 2018 gedauert. Die Autorin Becky Albertally erzählt in ihrem Roman eigentlich einfach nur eine ganz normale Love-Story im High-School-Setting aus der Sicht eines typischen Teenagers – aber Berlanti setzt das brillant um, indem er die ungeschönte Realität durch die rosarote Brille des (ersten) Verliebtseins betrachtet. So gerät seine Coming-of-Age-Tragikomödie zu einem der smartesten und am stärksten berührenden Beiträge des jüngeren Young-Adult-Kinos. „Love, Simon“ könnte das Genre für diese Dekade definieren wie es „Das darf man nur als Erwachsener“ für die 80er und „Clueless“ für die 90er getan haben.
Der 17-jährige Simon Spier (Nick Robinson) hat alles, was ein Teenager zum Glücklichsein braucht: eine Bilderbuchfamilie (Jennifer Garner und Josh Duhamel als die wohl verständnisvollsten Eltern der Welt), einen coolen Freundeskreis und gute Noten in der Schule. Doch mit einer Sache hadert er, seit er 13 ist: Simon ist schwul – und nicht einmal seine beste Freundin Leah (Katherine Langford) weiß davon. Als sich in einem anonymen Blog eines Tages ein Schulkamerad outet, fühlt sich Simon zum ersten Mal verstanden. Wochenlang tauschen Simon und der sich nur „Blue“ nennende Schreiber per E-Mail ihre intimsten Gedanken und Gefühle aus. Bis Simon eines Tages vergisst, sich am Schul-PC auszuloggen: Sein Klassenkamerad Martin (Logan Miller) droht daraufhin, den E-Mail-Verkehr öffentlich zu machen und Simon gegen seinen Willen zu outen. Aus Angst geht Simon auf die Forderungen von Martin ein, der unbedingt mit Simons guter Freundin Abby (Alexandra Shipp) verkuppelt werden will, obwohl die eigentlich auf Simons besten Freund Nick (Jorge Lendeborg Jr.) steht…
Im Original trägt der zugrundeliegende Bestseller den originellen Titel „Simon Vs. The Homo Sapiens Agenda“, was im Deutschen soviel bedeutet wie „Simon gegen den menschlichen Plan“. Becky Albertally, die in ihr Buch auch viele ihrer Erfahrungen als Psychologin miteinfließen ließ, erzählt in „Love Simon“ von den Folgen der allzu selten hinterfragten Annahme, dass die Heterosexualität der Norm entspricht und alle anderen Orientierungen als Abweichungen zu gelten haben. Wie tief diese Denkmuster verankert sind, wird im Film besonders eindrucksvoll in einer Bildmontage veranschaulicht, in der verschiedene Jugendliche ihren Eltern ihre Heterosexualität gestehen - ganz so, wie es Schwule und Lesben irgendwann tun (müssen), wenn sie sich outen.
Die Reaktionen der Eltern auf das Geständnis ihrer Zöglinge reichen von schulterzuckender Gleichgültigkeit bis zu Stoßgebeten gen Himmel. Und das ist nur ein Beispiel für die vielen kreativen Ideen, mit denen Berlanti die innere Zerrissenheit des Protagonisten illustriert. Dabei hadert Simon übrigens nicht bloß mit seiner verheimlichten Homosexualität, sondern auch mit den ganz alltäglichen Problemen des Erwachsenwerdens, wie sie alle seine Klassenkameraden genauso plagen. Schließlich ändert die sexuelle Orientierung nichts am Herzklopfen eines jungen Menschen, der kurz davor steht, seinem Schwarm seine Gefühle zu gestehen.
In „Love, Simon“ ist zunächst alles eine Spur zu perfekt. Gleichzeitig schwingt im von Simon selbst vorgetragenen Off-Kommentar aber auch immer ein Hauch Selbstironie mit, wenn er seine Eltern als Vorzeige-Traumpaar beschreibt oder betont, seine Schwester über alles zu lieben. Und auch für seinen Freundeskreis hat er dabei nur die sympathischsten Attribute parat. Doch die dank der gefeierten Dramaserie „This Is Us“ bestens mit der Klaviatur der menschlichen Gefühle vertrauten Drehbuchautoren Elizabeth Berger und Isaac Apataker schaffen es, aus dieser vermeintlichen Perfektion heraus eine enorme Fallhöhe zu generieren – sie brauchen kein „schwieriges“ soziales Umfeld für ihre Hauptfigur, um sie in eine emotional unbequeme Situation zu bringen. Aus Sicht von Simon erscheint schließlich wirklich alles als perfekt – abgesehen eben von der Tatsache, dass er sich bislang nicht geoutet hat, obwohl eigentlich nichts dagegenspricht. Und genau darin liegt hier die Krux.
Gerade dass Simon trotz seines äußerst stabilen Freundeskreises so sehr mit seinem Coming Out hadert, verhilft dem Film zu einer enormen Tragik. Mit großer Genauigkeit und Detailfreude wird von den Gründen für Simons Zurückhaltung erzählt, die hier weder auf Feigheit noch auf falschen Stolz zurückgeführt wird. Sei es die Gedankenlosigkeit des eigentlich aufgeschlossenen Vaters, der den Rosenkavalier der „Bachelor“-Show unbedacht als „Oberschwuchtel“ bezeichnet, oder die selbstverständliche Erwartung seiner gleichaltrigen Freunde, dass er doch dieselben Frauen heiß finden müsste wie sie selbst – „Love, Simon“ zeigt zugleich sehr deutlich und trotzdem subtil, wo das Zögern und die Unsicherheit der Betroffenen in Bezug auf das Coming Out herrührt. Dass dabei nie der emotionale Holzhammer geschwungen wird, ist für eine Hollywood-Studioproduktion recht ungewöhnlich und eine willkommene Überraschung.
Auch wenn die Idee eines anonymen Blogs, der an Simons Schule einen regelrechten Kultstatus genießt, im Jahr 2018 vielleicht nicht mehr ganz zeitgemäß ist, gelingt es den Machern gerade dadurch, nahezu Unaussprechbares aussprechen zu können. Die höchst intimen Dialoge zwischen Simon und Blue hätten von Angesicht zu Angesicht ausgesprochen schnell arg kitschig wirken können. So aber beschränken sich die hochtrabenden Gefühlsentblößungen auf den Chat, während die Real-Life-Dialoge wunderbar clever geschrieben sind und sehr authentisch wirken. Zusammen mit den zurückhaltenden Performances der durch die Bank starken Jungstars rührt das mehr als nur einmal zu Tränen.
Ein wunderbarer Inszenierungseinfall ist auch, dass die Person, die in Simons Vorstellung die E-Mails schreibt, jedes Mal von einem anderen Schauspieler verkörpert wird, sobald es neue Hinweise auf die wahre Identität des anonym postenden Blue gibt. Das verbildlicht zugleich auch schön, dass sich Simon wirklich (und nachvollziehbar) in den Autoren der E-Mails verliebt hat – und wie der im wahren Leben aussieht, ist ihm tatsächlich erst einmal egal. Die Auflösung der Blue-Frage ist dann auch noch eine gelungene Überraschung (die Autoren setzen hier auf einen Kniff, den auch schon Agatha Christie in einem ihren bekanntesten Bücher angewendet hat).
Selbst der auf dem Papier etwas forciert anmutende Handlungsstrang rund um Simons Erpressung durch den im Umgang mit Mädchen arg unbeholfenen Martin fügt sich völlig natürlich in den restlichen Plot ein. Zugleich lässt sich an seiner Figur auch eine weitere große Stärke von „Love, Simon“ festmachen: Berlanti und seine Autoren verzichten nämlich wohlweislich auf die einseitige Unterteilung der handelnden Person seiner Figuren in Gut und Böse – weder ist der Protagonist von Beginn an ein eindeutiger Sympathieträger (im Gegenteil wirken seine Ängste durch das vollkommen perfekte Umfeld bisweilen sogar wie First World Problems), noch macht Martins Verhalten ihn sofort zum Teufel. So unfair seine Erpressung auch ist, so unglaublich charmant ist sein Versuch, bei seiner Angebeteten Abby zu punkten, indem er sie zu mehr Selbstbewusstsein anstachelt. Auch wenn er an seiner Heath-Ledger-in-„10 Dinge, die ich an dir hasse“-Gedächtnisnummer noch ein bisschen arbeiten muss.
Hier gibt es keine übervorsichtige Schwarz-Weiß-Zeichnung, sondern es leistet sich eben jeder mal einen Fauxpas, selbst der vermeintlich perfekte Vater mit seinen homophoben Ausdrücken. Das alles mag im Hinblick auf das wahre Leben insgesamt vielleicht einen Tick zu schönmalerisch sein und gerade im Finale haben die Macher auch kein Problem damit, volle Kanne in den typischen Hollywoodromanzenkitsch einzustimmen – aber der entsprechende schon hinlänglich strapazierte Moment zündet hier endlich mal wieder zu 100 Prozent und hat absolut das Zeug dazu, sich einen Platz unter den ganz großen ikonischen Szenen des romantischen Kinos zu sichern. Szenenapplaus ist da wohl selbst dann noch unausweichlich, wenn man alleine zu Hause vor dem Fernseher hockt und sich gerade vor Glück die Augen aus dem Kopf heult.
Fazit: „Love, Simon“ bringt einen schon nach zehn Sekunden zum Lächeln und bald auch mehr als einmal zum Weinen, bis er einen am Ende mit einem absoluten Hochgefühl entlässt – es wird sicherlich viele Kinovorstellungen geben, in denen das Publikum in den letzten Minuten des Films in regelrechte Jubelstürme ausbrechen wird. Diese romantische Teenager-Komödie hat definitiv das Zeug dazu, diese Kinodekade nachhaltig zu prägen.