Bereits 1992 hat sich Dan Gilroy, der jüngere Brüder von „Michael Clayton“-Regisseur Tony Gilroy, seinen ersten Drehbuch-Credit (für den launigen Sci-Fi-Thriller „Free Jack“) erarbeitet und seitdem seiner Vita weitere solide Einträge wie „Das schnelle Geld“, „Real Steel“ oder „Das Bourne Vermächtnis“ hinzugefügt. Aber erst mit seinem Regiedebüt sorgte der Kalifornier 2014 für echtes Aufsehen: Seine meisterhaft-bissige Medien-Satire „Nightcrawler“ (FILMSTARTS vergibt 5 Sterne) schlug ein wie eine Bombe und brachte ihm eine Oscarnominierung für das Beste Originaldrehbuch ein. Diesen Erstlingserfolg zu bestätigen, gelingt Gilroy mit seiner zweiten Regiearbeit „Roman J. Israel, Esq. - Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ nur bedingt. Zwar spielt sein famoser Hauptdarsteller Denzel Washington mit einer oscarreifen Leistung groß auf, aber der Geschichte über einen hemdsärmelig-idealistischen Anwalt in der Sinnkrise fehlt ein wenig der erzählerische Fokus. So bleibt ein atmosphärisch starkes Charakterporträt ohne großen dramatischen Punch, aber mit viel Stil.
Roman J. Israel (Denzel Washington) ist ein kühner Idealist, ein Pro-Bono-Anwalt, der sich für die Unterdrückten und Mittellosen in Los Angeles einsetzt, als ginge es um sein eigenes Leben. Am besten versteht den querköpfigen Einzelgänger noch die Gleichstellungsaktivistin Maya Alston (Carmen Ejogo), die ihn unterstützt, wo sie nur kann. Als sein Boss und Mentor William Henry Jackson stirbt, muss dessen kleine Kanzlei schließen. Aus Mangel an Alternativen kommt Roman in der noblen Firma eines ehemaligen Studenten von Jackson unter. Doch der Inhaber George Pierce (Colin Farrell) ist ein aalglatter Karriereanwalt, der für Romans humanitäres Engagement nicht viel Verständnis aufbringt. Schließlich hat Israel die Gelegenheit, eine Belohnung von 100.000 Dollar zu kassieren, die ein Gangster für einen Hinweis auf eine Person ausgelobt hat. Der Anwalt überlegt ernsthaft, das unmoralische Angebot anzunehmen…
Diesen Roman J. Israel einen Exzentriker zu nennen, wäre stark untertrieben. Er ist ein sympathischer Kauz mit etlichen Ticks, die es seiner Umgebung nicht gerade leicht machen. Das geht schon damit los, dass er weder ein Auto noch ein Mobiltelefon besitzt – und das in Los Angeles! Roman führt seine Geschäfte von öffentlichen Münzsprechern aus (was durchaus amüsant ist). Zudem war er in seiner gesamten Anwaltskarriere noch nie im Gericht und wenn er jemandem etwas erklären muss, dann kommt er auch schon mal ins Stottern. „What a freak“, heißt es entsprechend an einer Stelle des Films über ihn. Seine größte Waffe ist sein fotografisches Gedächtnis, das ihn in einer Liga mit „Rain Man“ Raymond Babbitt spielen lässt.
Zu den diversen Verhaltensauffälligkeiten kommt bei Roman schließlich auch noch ein unverwechselbares Äußeres: Er kleidet sich wie ein Liberaler aus den 1970er Jahren, der noch nicht gemerkt hat, dass diese Ära seit 40 Jahren vorbei ist – ein Eindruck, der von seiner wilden Afro-Frisur noch unterstrichen wird. Auch für den wandlungsfähigen Denzel Washington („Training Day“, „American Gangster“) ist dieser Roman J. Israel, der seinen Titel „Esquire“ stets hinter seinem Namen nennt, Neuland und zum Vergnügen des Publikums stürzt sich der zweifache Oscargewinner mit sichtbarer Begeisterung auf die Gelegenheit, diese Figur durch eine veritable Lebenskrise zu manövrieren.
Denn um eine solche geht es, das zeigt schon die erste Szene zu Beginn: Roman schreibt ein Memo an sich selbst, in dem er seinen eigenen moralischen Verfall beklagt. Danach springt Dan Gilroy drei Wochen in der Handlungszeit zurück, um zu erzählen, was vor Romans ganz persönlichem Offenbarungseid passiert ist. Aber was den Idealisten wirklich in das moralische Schattenreich lockt, wird dabei nie so ganz klar. Auch Washingtons grandiose Performance und die überaus faszinierenden Wesenszüge seiner Figur können letztlich nicht ganz kompensieren, dass es der Erzählung an Klarheit und Fokus fehlt. Ein roter Handlungsfaden ist abgesehen von der Präsenz des Protagonisten selbst kaum zu erkennen, immer wieder führt uns Gilroy an neue Nebenschauplätze, ohne dass sich die einzelnen Episoden zu einem schlüssigen Gesamtbild fügen würden.
Der coole Jazz-Score und die kühlen Bilder tauchen den Film in eine angenehme, fast relaxte Stimmung, aber die Konturen der Erzählung und auch der Charakterstudie bleiben bis zum Ende etwas unscharf. Dennoch gibt es einige Entwicklungen und Leitmotive, die der Handlung Ansätze von Struktur verleihen. Besonders spannend ist dabei die Beziehung zwischen Roman und seinem neuen Boss George Pierce, den Colin Farrell („Total Recall“, „Brügge sehen… und sterben?“) glänzend als geldgeilen Karrieristen spielt, der mit Roman konfrontiert beginnt, ganz sachte darüber nachzudenken, sich selbst zu hinterfragen, sodass sich die beiden auf eine seltsame Art und Weise tatsächlich sympathisch sind, obwohl sie kaum unterschiedlicher sein könnten.
Fazit: „The Verdict“ trifft „Rain Man“ - Dan Gilroys Anwaltsdrama „Roman J. Israel, Esq.“ ist weniger ein stringenter Spielfilm als ein frei fließendes, atmosphärisches Charakterporträt, bei dem das „Wie“ letztlich viel wichtiger ist als das „Was“.