Seinen 66. Geburtstag hatte sich der russische Filmemacher Aleksey Uchitel („Captive - Gefangen in Tschetschenien“) ganz sicher anders vorgestellt: Nachts klatschten Molotowcocktails an die Wände seines Studios in St. Petersburg, in dem zum Glück kein großer Schaden entstand. Was war passiert? Konservativ-orthodoxe Gegner seines Films „Mathilde“ machten ihrem Unmut Luft und trieben die Proteste gegen den Kinostart des Historiendramas, das die Affäre des letzten russischen Zaren mit einer Primaballerina thematisiert, auf die Spitze. Zar Nikolaus II. wurde im Jahr 2000 heilig gesprochen – und da passt die historisch verbürgte Affäre, bei der der Zar sogar seine Jungfräulichkeit verloren haben soll, natürlich gar nicht ins Bild der Konservativen. Das Moskauer Kultusministerium sieht die Sache entspannter: „Jeder Bürger hat die Wahl, den Film zu sehen oder nicht“, denn rein rechtlich sei an ihm nichts auszusetzen. Dem deutschen Hauptdarsteller Lars Eidinger („Die Blumen von gestern“), den Protest-Anführerin Natalia Poklonskaja sogar als „Satanisten“ beschimpfte, wurde der Trubel zu viel – er sagte seine Teilnahme an der Premiere in Russland ab. „Das ist mir viel zu gefährlich, ich habe Angst“, ließ Eidinger verlauten. Sieht man von dieser bewegten Vorgeschichte des Films ab, fällt „Mathilde“ selbst allerdings bei weitem nicht so spektakulär aus: Das historische Liebesdrama punktet zwar mit beeindruckenden Schauwerten und überzeugenden Darstellern, aber die Geschichte selbst wird eher altbacken erzählt.
Der russische Thronfolger Nikolaus (Lars Eidinger) ist verliebt – allerdings nicht in eine Dame aus Adelskreisen, sondern in die hübsche Primaballerina Mathilde Kschessinsksa (Michalina Olszanska), die ihm schon bei der ersten Begegnung den Kopf verdreht. Die beiden stürzen sich Hals über Kopf in eine Affäre – was nicht nur seiner Mutter Maria Feodorovna (Ingeborga Dapkunaite) missfällt, denn in den Augen der herrschenden Klasse ist Mathilde keine standesgemäße Partie. Als Nikolaus‘ Vater Alexander III. (Sergey Garmash) nach einem Zugunglück im Sterben liegt, ist die Zeit für die Thronfolge gekommen: Nikolaus übernimmt die Staatsgeschäfte, ist aber weiterhin nicht bereit, sich von Mathilde zu trennen und die eigentlich für ihn vorgesehene Vernunftehe mit der deutschen Prinzessin Alix von Hessen-Darmstadt (Luise Wolfram) einzugehen. Die setzt alle Hebel in Bewegung, um Nikolaus‘ Affäre ein Ende zu bereiten – was auch im Sinne von Prinz Andrey (Grigoriy Dobrygin) wäre, der ebenfalls ein Auge auf die umtriebige Mathilde geworfen hat…
Eingefleischte „Tatort“-Fans dürften bei „Mathilde“ gleich ein doppeltes Deja-Vu erleben: Während sich Lars Eidinger den Anhängern der öffentlich-rechtlichen Krimireihe durch seine zwei Auftritte als Kieler Kult-Killer Kai Korthals im „Tatort: Borowski und der stille Gast“ und im „Tatort: Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes“ ins Gedächtnis gebrannt hat, war Luise Wolfram in den vergangenen Jahren dreimal als BKA-Ermittlerin Linda Selb im Fadenkreuzkrimi aus Bremen mit von der Partie. Beide legten sich für ihre Rollen in diesem ebenso umstrittenen wie prestigeträchtigen Historiendrama mächtig ins Zeug und sprachen die Dialoge in russischer Sprache ein – so ganz zufriedenstellend war das Ergebnis aber am Ende offenbar nicht, weil die Passagen noch einmal nachsynchronisiert werden mussten. Anzumerken ist das der Originalfassung des Films nicht, doch in ihren prächtigen Kostümen scheinen sich die deutschen Schauspieler trotzdem unterschiedlich wohl zu fühlen: Eidinger trägt die schmucken Zarenuniformen mit einer eleganten Selbstverständlichkeit, während Wolfram in ihren schillernden Kostümen stets etwas verkleidet wirkt und fast froh zu sein scheint, als sie sich ihrer vielen Kleiderschichten auf der Zielgeraden des Films schwungvoll entledigen darf.
Das 15-Millionen-Dollar-Budget des opulenten Historiendramas floss zu großen Teilen in die pompöse Ausstattung und die prachtvollen Kulissen, die den Prunk der Zarenzeit beeindruckend wiederauferstehen lassen: „Mathilde“ ist Eye-Candy pur und muss sich vor ähnlichen gelagerten Historienfilmen aus Hollywood oder Europa keineswegs verstecken. Der Kitsch in den russischen Palästen färbt bisweilen aber auch merklich auf das Drehbuch von Michael Katims und Aleksandr Terekhov ab: Da ändert sich das Wetter schon mal auf Knopfdruck, wenn Nikolaus und Mathilde nach einer längeren Trennung bei herrlichem Sonnenschein zwischen Blumen und Springbrunnen übereinander herfallen, sich dann aber streiten und Mathilde wenige Augenblicke später bei einem mittelschweren Wolkenbruch durch die Pfützen davonstiefelt. Bei der Wiedergabe des historischen Kontexts halten sich die Filmemacher grob an die Fakten, helfen der Dramaturgie aber bisweilen etwas auf die Sprünge: Eine Massenpanik bei Nikolaus Krönung zum Zaren mit mehr als 1.000 Toten etwa erhält nicht annähernd so viel Aufmerksamkeit wie die Frage, ob es Mathilde wohl gelingen wird, so viele Fouettes aufs Parkett zu zaubern wie Balletttänzerin Pierina Legnina (Sarah Stern), die mit ihr um die Rolle der Braut bei der nächsten großen Aufführung konkurriert.
Hier eröffnen sich einige Parallelen zu Darren Aronofskys Psychothriller „Black Swan“, doch Antriebsfeder des Geschehens ist die Antwort auf eine ganz andere Frage: Entscheidet sich der Thronfolger für die Vernunftehe oder für sein Herz? Historisch weniger bewanderte Zuschauer dürften am Ende durchaus eine Überraschung erleben, wenngleich ansonsten vieles in den geordneten Bahnen einer klassischen Romanze verläuft: Dem Verlieben und der stürmischen Leidenschaft folgen kleinere Krisen und handfeste Konflikte, die den Neidern und Saboteuren direkt in die Karten spielen. Hier sind es vor allem der forsche Oberst Vlasov (Vitaliy Kishchenko) und der skrupellose Dr. Fischel (Thomas Ostermeier), die mit aller Macht verhindern wollen, dass Mathilde und Nikolaus zueinanderfinden – und mit der Zarenwitwe gibt es auch die strenge, warnende Mutter (kennen wir nicht erst aus James Camerons „Titanic“), die nur das Beste für ihr Kind will und die sich erst im Schlussdrittel etwas von diesem Stereotyp emanzipieren darf. Die ganz große Wucht entfaltet das Historiendrama dank dieser klassischen Figurenkonstellation und Handlungsmuster nicht – das engagierte Spiel der Darsteller und die prunkvolle Ausstattung können die Geradlinigkeit der Geschichte aber ein Stück weit kompensieren. So kommen bei „Mathilde“ durchaus nicht nur Freunde der „Sissi“-Romantik und opulent ausgestatteter Kostümfilme auf ihre Kosten.
Fazit: Aleksey Utschitels „Mathilde“ ist ein prachtvoll ausgestattetes und ansprechend inszeniertes Historiendrama mit überzeugenden Darstellern – dramaturgisch wandelt der Film aber über weite Strecken auf ausgetretenen Pfaden.
Wir haben „Mathilde“ beim Filmfest Hamburg 2017 gesehen, wo er in der Sektion „Kaleidoskop“ gezeigt wurde.