Seelische Grauzonen erforschende, den in die dunkle Abstellkammer der Psyche verdrängten Urängsten der Menschen nachspürende Stimulatoren des Unterbewusstseins. So könnte man die Filme von David Lynch (Mulholland Drive - Straße der Finsternis, Lost Highway) umschreiben. Dass diese sich nicht selten (bewusst) eindeutigen Interpretationen entziehen, so dass es am gewieften Zuschauer ist, die Storyfragmente selbst zu einem befriedigenden Ganzen zusammen zu puzzlen, trägt zum Kultstatus des amerikanischen Regisseurs bei. Lynch`s kontrovers diskutiertes Frühwerk “Blue Velvet” (1985) macht da keine Ausnahme, auch wenn die Handlung hier wesentlich leichter zu entschlüsseln ist als bei etlichen anderen seiner Filme, was nicht heißen soll, dass gänzlich auf doppelte Böden verzichtet wird…
Jeffrey (Kyle MacLachlan), der sympathische Kleinstadt- Teenager von nebenan, macht beim nachmittäglichen Spaziergang im Feld einen grausigen Fund: Im hohen Gras liegt ein abgeschnittenes menschliches Ohr! Als er dem ortsansässigen Polizeichef Officer Williams (George Dickerson) davon erzählt, appelliert dieser an Jeffrey, seine Nase nicht in den Fall hineinzustecken. Doch die Neugierde nagt an Jeffrey-und deshalb begibt er sich mit der Tochter des Sheriffs, Sandy (Laura Dern), auf die Suche nach ausschlaggebenden Indizien. Bald schon haben die b
eiden Hobbydetektive eine Spur, welche zu der Nachtclubsängerin Dorothy Vallens (Isabella Rossellini) führt. Mit einem Trick verschafft sich Jeffrey Zutritt zu deren Wohnung, als diese plötzlich von der Arbeit nach Hause kommt. Der Schnüffler versteckt sich in ihrem Kleiderschrank und beobachtet von dort aus, wie ein Mann namens Frank Booth (Dennis Hopper) hinzustößt, der zu Dorothy offenbar ein vertrauenswürdiges Verhältnis pflegt, und sich mit ihr in einer sadomasochistischen Orgie ergeht. Frank schlägt Dorothy, die das zu genießen scheint, und gibt seine obszönen Wünsche preis. Als er die Wohnung verlässt, macht es den Eindruck, als sei sie immer noch high von diesem Erlebnis. Jeffrey, erschrocken und zugleich fasziniert von dem, was er gesehen hat, verrät sich versehentlich mit einem Geräusch, woraufhin Dorothy den Schrank aufreißt und den ungebetenen Gast darin ertappt. Vor Schock bedroht sie ihn mit einem Küchenmesser- doch dieser Schockzustand mündet schon bald in ein sexuelles Verlangen- und Dorothy zwingt Jeffrey dazu, sich vor ihr zu entblößen, was dieser in einer Art Mischung aus Scham und Erregung auch befolgt. Als Frank wie aus heiterem Himmel zurückkommt, beginnt für Jeffrey ein Alptraum, aus dem es kein Entrinnen gibt…
Im Zentrum von “Blue Velvet” stehen die klassischen Lynch- Themenbereiche: sexuelle Obsessionen (hier größtenteils in Form sadomasochistischer Praktiken), Gewalt und Besessenheit sowie die von Freud hergeleiteten Traumata, deren Ursprung in unterdrückten emotionalen Schwankungen zu suchen ist. Dazu gesellt sich ein beliebtes Hitchcock-Motiv, nämlich der Voyeurismus - die Lust, zuzuschauen, sowohl bei Jeffrey (der sich im Schrank versteckt und Dorothy dabei zusieht, wie sie sich entkleidet) als auch beim Zuschauer selbst, der wie gebannt der Hauptfigur, dem jungen Collegeboy Jeffrey, folgt, wie er sich immer tiefer in diesem Strudel verfängt, weil er wiederum seine Sucht, zu recherchieren, nicht unterdrücken konnte, was sich jetzt bitter rächt. Es geht um den Reiz, das “Fremde” kennen zu lernen, sich verbotene Blicke hinter die `Heile Welt´- Fassade zu erlauben, die sich hier in Gestalt der in oberflächliche Schönheit gehüllten Kleinstadt Lumberton präsentiert, deren ordentlich gestutzte Rasenflächen und idyllisch anmutende, weiß umzäunte Reihenhäuser der brodelnden urbanen Unterwelt nur scheinbar entgegenstehen. Wenn Bobby Vinton`s Titelsong mit seiner unschuldigen Unbeschwertheit im Vorspann erklingt, kennzeichnet dies nicht etwa die Ruhe vor dem Sturm, das Böse tobt bereits im Untergrund und ist ständig präsent. Lynch kontrastiert diese beiden Welten und lässt sie zu einer einzigen verschmelzen. “Blue Velvet” ist die nonchalant-zynische Demontage des US-Kleinstadtidylls, bei der ihr Inszenator zum hämischen Komplizen wird und den Zuschauer im dunklen Sog der Bilder alleine lässt.
Nur in dieser Hinsicht instrumentalisiert Lynch seine Charaktere, die in ihrer Abstraktheit Bände sprechen. Sehen wir uns zum Beispiel Frank an, diesen sadistischen, pervertierten und widerwärtigen Psychopathen, der nur dann imstande ist zu fühlen, wenn er die nicht definierbare Droge aus seiner seltsamen Sauerstoffmaske konsumiert. Das sind aber keine normalen Gefühle, sondern unkontrollierte, krankhafte Gefühle - man denke nur an die Szene im Apartment von Ben (Dean Stockwell) und daran, wie er sich dort gebärdet. Dieser Frank, der in geradezu inflationärem Ausmaß von dem unzüchtigen Wort mit “F” Gebrauch macht, stößt durch und durch ab, keine Frage. Doch Lynch überzeichnet diesen Charakter so sehr - fast schon in`s Karikative - dass er ihm, stets den satirischen Aspekt im Blick, bisweilen tatsächlich Ansätze (wenn auch tiefschwarzen) Humors abgewinnen kann. Dass Dennis Hopper in dieser ihm auf den Leib geschneiderten Rolle eine Meisterleistung vollbringt, war nicht anders zu erwarten. Rossellini spielt Dorothy als eine devote, sich hemmungslos ihren sexuellen Bedürfnissen hingebende Frau, deren vielschichtige Darstellung den Zuschauer abwechselnd auf Distanz hält und Mitleid spüren lässt, da sie in dem unbändigen Leid, Opfer und Geisel Franks zu sein, mehr und mehr aufzugehen scheint. Wir erleben das Geschehen jedoch aus der Sicht des jungen Pärchens, Jeffrey und Sandy, das die konstante Bedrohung für uns erfahrbar werden lässt.
Ja, David Lynch erzählt von menschlichen Abgründen. Doch er tut dies keinesfalls mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern auf eine für ihn typische suggestive Weise, indem er die alptraumhaften, extraordinären Bilder als eine Art Rimbaud`sche Entfesselung der Sinne einfach für sich selbst sprechen lässt. “Blue Velvet” lässt - wie beinahe jeder Film des Kino-Querdenkers - einige Fragen offen, ist aber inhaltlich dennoch zugänglicher als seine beiden surrealistischen Kopfnüsse “Lost Highway” und “Mulholland Drive”. Die Erkenntnis, die man fern jeder moralisierenden Stellungnahme seitens Lynch aus seinem schwülen Noir-Exzess destillieren kann, ist jene, dass in jedem von uns Menschen eine dunkle Seite schlummert und dass “Himmel” und “Hölle” zwei Begriffe sind, die sich nicht grundsätzlich ausschließen müssen, in ihrer Visualisierung manchmal sogar kaum noch voneinander zu unterscheiden sind…