Ganz vom Geist seiner Entstehungszeit geprägt ist das Kinderbuch „Schellen-Ursli“, das 1945 von der Autorin Selina Chrönz und dem Zeichner Alois Carigiet veröffentlicht wurde. In der Schweiz ist das Werk fast genauso berühmt wie Johanna Spyris „Heidi“, in dem ebenfalls eine moralische Geschichte über das traditionelle Leben erzählt wird. Regisseur Xavier Koller („Gripsholm“) hat das dünne Bilderbuch über den Jungen Uorsin (so heißt Ursli im rätoromanischen Original) nun in spektakulärer Landschaft neu verfilmt und die kurze Erzählung mit ihren knappen Versen auf Spielfilmlänge ausgedehnt. Das Ergebnis ist auf den ersten Blick ein klassischer Kinderfilm voller lehrreicher Lektionen für das Zielpublikum, der sich beim genaueren Hinsehen als weitaus vielschichtiger entpuppt als es zunächst scheint.
Den Sommer verbringt Uorsin (Jonas Hartmann) zusammen mit seinen Eltern Linard (Marcus Signer) und Luisa (Tonia Maria Zindel) auf der Almhütte. Erst wenn der Winter naht und der Käse fertig ist, zieht die Familie ins Tal. Doch diesmal geschieht beim Abstieg ein Unglück: Der Karren stürzt in den Abgrund, der Käse scheint verloren. Die Schulden der Familie beim Dorfvorsteher und Krämer Armon (Leonardo Nigro) werden immer größer. Ausgerechnet dessen Sohn Roman (Laurin Michael) ist Uorsins größter Rivale in der Schule. Sie buhlen beide um die Gunst der lieblichen Seraina (Julia Jeker) und streiten um die größte Glocke, die nach altem Brauch beim sogenannten Chalandamarz durch das Dorf getragen wird, um den Winter zu vertreiben.
Trotz der malerischen Bilder von der Alm, der Beschwörung des heimeligen Familienlebens, der liebevoll gezeichneten Traditionen und Rituale ist „Schellen-Ursli“ eben keine nostalgische Verklärung des einfachen Lebens wie sie bei einer Verfilmung einer so vom Zeitgeist längst vergangener Tage durchzogenen Vorlage durchaus naheliegt. Doch Regisseur Xavier Koller, der 1991 mit seinem Flüchtlingsdrama „Reise der Hoffnung“ den Oscar in der Kategorie Bester nicht-englischsprachiger Film für die Schweiz gewann, vermeidet Kitsch und Sentimentalität weitgehend und deutet unter der glatten Oberfläche immer wieder die Härte der damaligen Lebensbedingungen an – ähnlich wie das zuletzt auch schon Alain Gsponer bei seiner „Heidi“ mit Bruno Ganz gemacht hat.
Uorsins Familie lebt stets am Rande der Armut, eine ausgefallene Ernte oder der Verlust einer Ladung Käse kann da schon eine Katastrophe sein - zumal auch in diesem Bergidyll Gewinnstreben oft vor Anstand und Moral kommt. Das wird durch die Figur des Dorfkrämers verdeutlicht, der seinen Mitbürgern Kredite aufdrängt und seinen Wohlstand nur für eigene Interessen einsetzt. Dessen kaltherziges Verhalten ist zwar bisweilen etwas dick aufgetragen, sorgt aber für gut nachvollziehbare Konflikte. Außerdem betreibt Koller eben keine Schwarz-Weiß-Malerei, sondern wirft einen differenzierten Blick auf diese Welt, etwa indem er andeutet, dass Gutgemeintes manchmal auch unerwünschte Konsequenzen haben kann. Obwohl am Ende natürlich das Gute siegt, ist „Schellen-Ursli“ damit kein einseitiges Heile-Welt-Märchen: Hinter der altmodisch-hübschen Fassade verbirgt sich eine durchaus komplexe und zugleich kindgerechte Erzählung über Freundschaft, Gerechtigkeit und Fairness.
Fazit: Xavier Koller erzählt in seiner Verfilmung des berühmten Schweizer Kinderbuchs „Schellen-Ursli“ bildgewaltig und feinfühlig von Freundschaft und Abenteuer.