Nachdem die Aufnahmetechnik für Farbfilme jahrzehntelang nur auf Weiße ausgelegt war, dauerte es bis in die 1990er Jahre, bis Philips endlich eine Kamera entwickelte, die auch die unterschiedlichen Hauttöne von Schwarzen akkurat abbilden konnte (die Talkshow von Oprah Winfrey war eines der ersten Formate, in dem sie zum Einsatz kam). Auf eine andere Verfälschung, allerdings auf eine ungleich poetischere, spielt auch der Titel von Tarell Alvin McCraney nie aufgeführtem Theaterstück „In Moonlight Black Boys Look Blue“ an, das Regisseur und Autor Barry Jenkins („Medicine For Melancholy“) nun als „Moonlight“ auf die große Leinwand bringt. Mit einem Budget von weniger als fünf Millionen Dollar und ohne große Namen vor der Kamera wäre das in drei Kapitel gegliederte Porträt eines schwulen Schwarzen in Miami eigentlich prädestiniert dafür, vor allem auf Festivals und Top-10-Listen von Kritikern aufzutauchen, während die breite Öffentlichkeit – wie bei so vielen Indie-Perlen – eher keine Notiz von ihm nimmt. Aber Pustekuchen! „Moonlight“ hat schon bei seiner Weltpremiere in Telluride im Herbst 2016 für solche Furore gesorgt, dass er bald neben „La La Land“ als größte Oscarhoffnung des Jahres galt. Und in einem denkwürdigen Twist wurde er dann von der Academy tatsächlich zum Besten Film seines Jahrgangs gekürt!
Der schweigsame neunjährige Chiron (Alex R. Hibbert), der von allen immer nur Little genannt wird, leidet unter der Cracksucht seiner alleinerziehenden Mutter Paula (für diese Rolle Golden-Globe-nominiert: Naomie Harris). Erst als er in dem verständnisvollen Drogenhändler Juan (Oscar als Bester Nebendarsteller: Mahershala Ali) und dessen Freundin Teresa (Janelle Monáe) eine Art Ersatzfamilie findet, kommt er langsam aus sich heraus… Sieben Jahre später erlebt Chiron (Ashton Sanders) mit seinem besten Freund und Mitschüler Kevin (Jharrel Jerome) seine erste homosexuelle Erfahrung, gerät an seiner Highschool zugleich aber auch wegen seiner Andersartigkeit in große Probleme… Mit Ende 20 ist Chiron (Trevante Rhodes), der sich inzwischen Black nennt, selbst ein gestählter Drogendealer, der offensichtlich beschlossen hat, nicht länger bloß ein Opfer sein zu wollen. Aber dann erhält er aus heiterem Himmel einen Anruf von Kevin (André Holland)…
Der Crackdealer mit einem Herzen aus Gold – was im ersten Moment nach einem ziemlichen Klischee klingt, wird vor allem dank Mahershala Ali zu einem konsequent ambivalenten (er kümmert sich zwar fürsorglich um Little, vertickt aber Crack an dessen Mutter) und zugleich unendlich zärtlichen (Freundschafts-)Porträt: Besonders eine (Tauf-)Szene im Meer entpuppt sich als pure Kinopoesie. Sowieso ist das gesamte erste Kapitel durchzogen von solchen kleinen Momenten der Hoffnung: Das Gleiten des Arms im Fahrtwind und das Spiegeln der Wolken im Autolack hätten etwa leicht ins Kitschige abgleiten können, aber hier erlangen sie eine zwar kindliche, aber nie naive Wahrhaftigkeit. Auch das eigentliche Thema von „Moonlight“, nämlich das Verhandeln von Männlichkeit als Schwarzer, als Schwuler, als von der Gesellschaft Vergessener, wird in der ersten Passage zumindest schon angedeutet, wenn Chiron endlich den Mund aufbekommt und dann gleich als erstes fragt: „Was ist eine Schwuchtel? Wie weiß ich, ob ich eine bin?“
Die zweite Episode ist dann die am wenigsten besondere (erzählerisch hat Jenkins dem Schwuler-Außenseiter-an-der-Schule-Plot wenig Neues hinzuzufügen), bevor der Regisseur im finalen Drittel noch mal richtig was riskiert (und damit den Jackpot knackt): Nachdem der kleine Junge mit dem ständig hängenden Kopf und der so verloren wirkende, schlaksige Teenager noch klassische Sympathieträger waren, hat sich Chiron im letzten Kapitel zu einem wandelnden Gangsta-Klischee aufgepumpt – muskelbepackt mit Goldkettchen und Goldgrills. Aber wie Jenkins dann alle Erwartungen konsequent unterläuft, ist einfach nur brillant: Bei einem „Date“ mit seinem Schulfreund Kevin blättert immer mehr von der Gangster-Fassade ab und es wird immer deutlicher, dass Chiron dieses neue Leben nur aus Selbstschutz führt, weil alle Versuche, er selbst zu sein, vorher so krachend gescheitert sind. Eine schmerzlich-berührende Erkenntnis, die in „Moonlight“ mit genau der richtigen Mischung aus harter Ehrlichkeit und zärtlicher Hoffnung präsentiert wird.
Man hätte dieselbe Geschichte sicherlich auch leicht als trockenen Problemfilm inszenieren können – doch dank der häufig an der Grenze zur Überinszenierung vorbeischrammenden, aber dann doch fast immer auf der richtigen Seite landenden Regie entwickelt sich „Moonlight“ zu einem regelrechten Kinogedicht: Schon die erste Szene, in der Juan eigentlich nur etwas mit einem seiner Straßendealer bespricht, erinnert durch die elegant zwischen den Figuren herumwirbelnde Kamera von James Laxton („Camp X-Ray“) viel eher an ein Leinwandballett als an naturalistisches Sozialkino. Klassische Streichermusik, ausgeblendetes Geschrei, das flackernde Licht von Badezimmerspiegeln und Polizeisirenen, eine grobkörnige (Retro-)Farbpalette – „Moonlight“ mag mit knappen finanziellen Mitteln entstanden sein, aber Barry Jenkins‘ Stilwillen kennt keine Grenzen. Er geht inszenatorisch in die Vollen, ohne dass er dabei je die intime Qualität seines berührenden Außenseiterporträts aufs Spiel setzen würde.
Fazit: Nachdem man „Moonlight“ gesehen hat, stellt sich die Frage, warum ausgerechnet dieser kleine Indie-Film aus dem Nichts zum großen Oscargewinner aufgestiegen ist, eigentlich gar nicht länger. Es fühlt sich einfach richtig an.