Auch wenn die realen Ereignisse, auf denen Jonas Carpignanos „Mediterranea“ basiert, bei seiner Premiere auf dem Festival in Cannes 2015 schon fünf Jahre zurückliegen, könnte das Flüchtlingsdrama nicht zeitgemäßer sein. Denn an den Strömen von Migranten, die zu Tausenden über das Mittelmeer in die EU drängen und auch an dem frappierenden Rassismus, der den Hilfesuchenden vielerorts entgegenschlägt, hat sich nichts geändert – im Gegenteil. In kaum einmal zur Ruhe kommenden Handkamerabildern schildert Carpignano die beschwerliche Reise von Ayiva (Koudous Seihoun) und Abas (Alassane Sy) von Burkina Faso in Westafrika durch Algerien nach Libyen. Dort überqueren sie das Mittelmeer und landen in Süditalien, wo sie sich als Hilfsarbeiter durchschlagen. Doch ihr Traum vom besseren Leben findet ein jähes Ende, als sie zu Opfern rassistischer Ausschreitungen werden.
2010 kam es in Jonas Carpignanos Heimatstadt Rosarno in Kalabrien zu gewalttätigen Übergriffen gegen afrikanische Migranten – ein Erlebnis, das der angehende Regisseur zu seinem Kurzfilm „A Chjàna“ verarbeitete, der 2014 ebenfalls in der Cannes-Nebenreihe Semaine de la Critique präsentiert wurde. In „Mediterranea“ erweitert Carpignano den Stoff nun zum Spielfilm, wobei er sich vor allem auf das Leben seiner Hauptfiguren vor den Ausschreitungen konzentriert. Bei der Umsetzung folgt er den Maximen Wahrhaftigkeit und Authentizität: Statt auf simple psychologische Erklärungen oder archetypische Zuspitzungen setzt der Regisseur auf dokumentarisch anmutende Unmittelbarkeit nicht nur bei der Kameraarbeit, außerdem spielt Hauptdarsteller Koudous Seihoun gleichsam seine eigenen Erlebnisse als Flüchtling nach. In „Mediterranea“ gibt es zu den Themen Ungleichheit, Rassismus und Migration zwar keine neuen Erkenntnisse, aber als Appell zu mehr Menschlichkeit verfehlt der von tiefer Sympathie für die geschundenen Flüchtlinge durchzogene Film seine Wirkung nicht.
Fazit: In seinem intensiven Drama „Mediterranea“ schildert Jonas Carpignano in semidokumentarischer Manier das Schicksal zweier Flüchtlinge, die aus Afrika nach Europa kommen und mit dem alltäglichen Rassismus des Kontinents konfrontiert werden.