Deutsche Genrefilme sind immer noch Mangelware im Kinoprogramm, aber immerhin versuchen sich in den vergangenen Jahren auch die Absolventen von Filmhochschulen zunehmend in den Bereichen Horror, Thriller und Fantasy. Nachdem schon so unterschiedliche Werke wie die Endzeitvision „Hell“ und der Tierhorror „Stung“ den Weg in mehr oder weniger zahlreiche Lichtspielhäuser fanden, legt der Schweizer Regisseur Michael Krummenacher, der an der Hochschule für Fernsehen und Film München studiert hat, nun mit „Sibylle“ eine spannende Mischung aus Horrorfilm und Psychodrama vor: Sibylle (Anne Ratte-Polle) betreibt mit ihrem Mann Jan (Thomas Loibl) ein erfolgreiches Architekturbüro und will im gemeinsamen Urlaub am Gardasee mit den Söhnen David (Dennis Kamitz) und Luca (Levi Lang) endlich mal entspannen. Doch sie kann auch dort nicht schlafen. Auf einem ihrer morgendlichen Spaziergänge wird sie Zeugin eines grausigen Unfalls (oder war es ein Selbstmord?). Die Tote sieht ihr zum Verwechseln ähnlich, und Sibylle beschließt, im Leben ihrer toten „Doppelgängerin“ nachzuforschen und trifft in deren Hotel auf überaus seltsame Angestellte, die an das Personal des Overlook-Hotels in Kubricks „Shining“ erinnern.
Wieder zu Hause in München erscheint Sibylle auch ihr Alltagsleben zunehmend merkwürdig: David will plötzlich Bodybuilder werden und schaut Gewaltpornos, der kleine Luca dreht im Hof endlose Runden auf seinem Fahrrad (in „Shining“ machte das Jack Nicholsons Filmsohn im Hotelkorridor) und ein neuer Nachbar scheint sie ständig aus dem Fenster zum Hof zu beobachten (Hitchcock und vor allem Polanskis „Der Mieter“ lassen grüßen). Michael Krummenacher verbeugt sich immer wieder vor Vorbildern wie Stanley Kubrick, Roman Polanski oder David Lynch, aber vor allem verdichtet er die vielen bizarren Vorkommnisse in gruselige Momente und erzeugt wohligen Kino-Schauer. Gekonnt lässt der Regisseur die Realitätsebenen verschwimmen: Hat sich die Welt wirklich so irritierend verändert, wie es Sibylle wahrnimmt, oder rutscht die junge Frau langsam aber sicher in den Wahnsinn ab? Die Antwort auf diese Frage bleibt bis zum Ende offen und dass dieser Balanceakt so gut gelingt, ist vor allem auch der Hauptdarstellerin Anne Ratte-Polle („Die Nacht singt ihre Lieder“, „Tatort“) zu verdanken, die den Kampf ihrer Figur um Kontrolle ebenso eindringlich wie subtil zum Ausdruck bringt. Geschickte Geräuscheffekte (so kommen aus dem Telefon nur noch merkwürdige Tonverzerrungen) und oftmals klaustrophobisch wirkende Bilder (Kamera: Jakob Wiessner) verstärken die Irritationen noch: „Sibylle“ ist trotz kleiner Längen im Mittelteil eine ebenso sehenswerte wie vielversprechende Genre-Fingerübung.
Fazit: „Sibylle“ ist eine geschickte Mischung aus Horror und Psychodrama, bei der man bis zum Schluss nicht sicher sein kann, ob das Gesehene „wirklich“ stattfindet oder ob es sich nur um Wahnvorstellungen der von Anne Ratte-Polle erstklassig dargestellten Hauptfigur handelt.