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    Der Vagabund und das Kind
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Der Vagabund und das Kind
    Von Matthias Ball

    „Ein Film mit einem Lächeln - und vielleicht einer Träne.“ Nicht viele Filme lassen sich in so wenigen Worten, derart treffend zusammenfassen wie Charlie Chaplins „Der Vagabund und das Kind“ (Original: „The Kid“). Nach sechs Jahren, in denen er ausschließlich Kurzfilme produzierte, erschien 1921 Chaplins erste Produktion in Spielfilmlänge, die zugleich den Anfang einer langen und unvergleichlichen Reihe amerikanischer Kulturzeugnisse markierte. „Der Vagabund und das Kind“ zählt zu seinen bekanntesten und finanziell erfolgreichsten Werken, das trotz kleiner Schwächen zum Inbegriff Chaplins Slapstickkunst avancierte.

    Zu Beginn wird die Geschichte einer Frau (Edna Purviance) erzählt, die ihr neugeborenes Baby in eine teure Limousine legt und auf einem Zettel den Besitzer bittet, für das Kind zu sorgen. Bevor es jedoch dazu kommen kann, wird der Wagen von einer Gangsterbande geklaut, das Baby kurzerhand neben Mülltonnen und Abfällen in einer Sackgasse zurückgelassen. Hier findet es der Tramp (Charlie Chaplin), der zwar zunächst alles daran setzt, das Kind möglichst schnell wieder loszuwerden, den inneren Schweinehund letzten Endes dann aber doch besiegt und ihn in seine spartanisch eingerichteten Mansardenwohnung aufnimmt.

    Fünf Jahre später: „The Kid“ (Jackie Coogan), mittlerweile zu einem gewitzten Jungen herangewachsen, bewährt sich nicht nur im Haushalt, sondern zeigt sich im Zusammenspiel mit seinem neuen Vater als durchaus gewiefter Geschäftspartner. Wo der Kleine nach und nach Fensterscheiben einwirft, ist der Tramp voller Elan stets als ambulanter Glaser vor Ort. Doch das glückliche Zusammenleben der beiden findet ein abruptes Ende, als sich auf Anraten des Arztes der das Jugendamt einschaltet und die einst verschwundene Mutter auftaucht. Diese ist mittlerweile zum erfolgreichen Bühnenstar gereift und möchte ihr Kind zurück…

    Chaplins große Entdeckung war das Schauspieltalent des damals erst sechsjährigen Jackie Coogan, für den „Der Vagabund und das Kind“ das Sprungbrett zu einer der größten Karrieren im Stummfilm wurde. Für Chaplin, der seine Darsteller immer nur als nötiges Hilfsmittel ansah, war Coogan der perfekte Schauspieler. Er verstand es wie kein anderer, Chaplins Mimiken und Gesten auf Anhieb zu imitieren. Das Zusammenspiel der beiden ist somit - wie zu erwarten - das eigentliche Highlight des Films. Chaplins Slapstick in Kombination mit Coogans nuanciert dargestellten Empfindungen machen aus „Der Vagabund und das Kind“ ein unerreichtes Zusammenspiel aus Komödie und bewegenden Emotionen.

    Unverkennbares Merkmal und Grundkonflikt in Chaplins Tramp-Episoden ist wieder einmal das Aufeinandertreffen zwischen öffentlicher Gewalt und der kleinen, einfachen Welt des watschelnden Zylinder-Trägers. Egal in welches Unglück sich unser Held hineinbewegt, der Tramp bleibt stets Sieger in Würde und Selbstachtung. Wie groß die Gefahr auch sein mag, einen Tramp ohne Hut und Stock wird es nie geben. Als die pflichtbewussten Ordnungshüter und Vertreter der Fürsorge zum finalen Schlag ausholen, kommt es zur packenden Verfolgungsjagd, in der nicht nur Verzweiflung, Leidenschaft und Wahnsinn, sondern ebenso einiges an Sozialkritik liegt. Anstatt dem fürsorglichen, allerdings armen Vater das Sorgerecht zu überlassen, ist es letztlich die reiche und berühmt gewordene Mutter, die sich fortan um den Jungen kümmern darf.

    Vom handwerklichen Aufwand betrachtet gehört „Der Vagabund und das Kind“ zu den aufwändigsten Chaplin-Filmen überhaupt. Mehr als das fünfzigfache des Filmmaterials, das am Ende verwendet wurde, verbrauchte Chaplin bei den Dreharbeiten in den neu errichteten Chaplin-Studios. Wie im Großteil seiner restlichen Produktionen wurde die Filmmusik eigens für „Der Vagabund und das Kind“ komponiert und schafft es in bemerkenswerter Weise die Stimmung auf der Leinwand zu jedem Zeitpunkt in die Ohren des Zuschauers zu transportieren. Doch die Tragikomödie ist nicht gänzlich ohne Schwächen. Vor allem in der abschließenden Traumszene hat es Chaplin mit der Schwarz-Weiß-Malerei ein wenig übertrieben. Nachdem sich das Böse, in Person von Teufeln, Zutritt in die paradiesische Welt verschafft, herrscht heilloses durcheinander. Der Tramp am Boden – das Kind entrissen. Im Kontext zum hervorragenden Gesamteindruck aber sicherlich zu vernachlässigen. So gelang Charlie Chaplin mit „Der Vagabund und das Kind“ ein faszinierendes Werk mit viel Lachen und vielleicht einer Träne.

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