Schon in seinem Debütfilm „I Killed My Mother“ – das Drehbuch dafür schrieb er mit sechzehn - hatte der 19-jährige Xavier Dolan sich mit der furiosen Verve des genialen Jungfilmers an der Mutter-Sohn-Thematik abgearbeitet. Fünf Jahre später ist er mit „Mommy“ nicht nur zu seinem Ur-Thema zurückgekehrt, sondern hat die Mutterrolle sogar mit derselben Darstellerin wie in seinem Erstling besetzt. Den Part des Sohnes allerdings hat der 1989 geborene Regisseur, der mittlerweile auch optisch dem Teenageralter entwachsen ist, in „Mommy“ schon aus Altersgründen nicht mehr selbst übernehmen können und stattdessen den erstaunlichen Antoine Olivier Pilon engagiert. Der versieht die Figur mit elementarer Wildheit und führt damit ein Ensemble an, das mit seiner Intensität, die von der Unmittelbarkeit der Inszenierung noch hervorgehoben wird, für ein überaus emotionales Filmerlebnis sorgt. „Mommy“ erzielt eine so direkte Wirkung, dass die Leinwand dem Zuschauer förmlich entgegenzukommen scheint: Große Filmkunst trägt die dritte Dimension in sich selbst.
Die alleinerziehende Diane (Anne Dorval) und ihr fünfzehnjähriger Sohn Steve (Antoine Olivier Pilon) lieben sich über alles, doch können sie nicht glücklich miteinander leben. Beide trauern immer noch um Steves Vater, der ein paar Jahre zuvor gestorben ist. Steve leidet an ADHS sowie einer undefinierten Affektstörung und ist so sehr eine Gefahr für seine Umwelt, dass er aus dem Heim ausgewiesen wird, in dem Diane ihn untergebracht hatte. Sie muss ihn wieder mit nach Hause nehmen, hat aber ohnehin schon genügend Probleme. Für eine gewisse Entspannung sorgt die Nachbarin Kyla (die ebenfalls Dolan-erprobte Suzanne Clément), eine nicht mehr ganz junge Frau und Mutter, die aufgrund eines angedeuteten Traumas (es ist nur zu erahnen, dass auch sie einst einen Sohn hatte) ihren Beruf als Lehrerin nicht mehr ausüben kann und stottert. Kyla schließt sich ganz eng an Diane und Steve an, Mann und Tochter vernachlässigt sie darüber regelrecht.
Alle drei Hauptfiguren tragen im Verborgenen ihr Päckchen aus Trauer und Trauma, daher sind sie nicht in der Lage, anderen eine Stütze zu sein. Ein gutes Ende ist da kaum in Sicht, aber trotz aller Tragik und aller emotionalen Wucht ist „Mommy“ kein düsterer Film, ebenso wenig ist er ein aufklärerisches Sozialdrama. Nein, „Mommy“ ist große Oper – umgesetzt mit allen Mitteln, die im Medium Kino zur Verfügung stehen. Immer wieder gelingt Dolan die visuelle Verzauberung des Zuschauers mit Szenen von reiner, absoluter Schönheit und Freiheit – diese beiden Dinge liegen in diesem Film so eng beieinander wie sonst kaum jemals. Wenn der Junge Steve mit einem Einkaufswagen nach Hause fährt, schwungvoll und verspielt, beladen mit Dingen, die er für die geliebte Mutter besorgt hat, choreografiert Dolan diese Fahrt wie einen Freudentanz. Es ist eine glückselig bewegte, musikerfüllte Sequenz in warmen, hellen Farben - träumerisch, entrückt und von ekstatischer Leichtigkeit.
Nach diesem magischen Moment ist das anschließende Erwachen in der Realität umso brutaler: Der leichtfertige Steve, der doch mit den besten Absichten gehandelt hat, wird von seiner erregbaren Mutter mit Vorwürfen belegt, geklaut zu haben. Als Diane das Geschenk einer Kette mit dem Schriftzug „Mommy“ heftig ablehnt, eskaliert der Konflikt zur gewalttätigen Krise. Wie kompliziert das Verhältnis zwischen der impulsiv-temperamentvollen Mutter und dem zu Überreaktionen neigenden Sohn wirklich ist, lässt sich auch daran ablesen, dass Diane ebendiese Kette im späteren Verlauf des Films ununterbrochen tragen wird. Dolan stellt keine Fragen und liefert keine Antworten. Er zeigt, ohne zu urteilen, und macht das Gezeigte nachfühlbar, dabei begegnet er allen seinen Figuren mit Großzügigkeit und Verständnis. So wird der Film für den Betrachter zu einer einzigen emotionalen Achterbahnfahrt. Die vertrackte Situation macht einen einerseits unendlich traurig, andererseits gehört Dolan zu jenen Künstlern, die spürbar machen können, was Glück eigentlich ist. Hier zeigt es sich für einige flüchtige und dafür umso schönere Augenblicke.
Fazit: Hochemotionales, grandios gespieltes und virtuos inszeniertes Mutter-Sohn-Psychodrama des kanadischen Regie-Genies Xavier Dolan.