Anders als in Deutschland bleibt die Beihilfe zur Selbsttötung – der sogenannte „assistierte Suizid“ – in der Schweiz grundsätzlich straffrei, solange kein egoistisches Motiv vorliegt. Sterbehilfe-Organisationen wie Dignitas oder Exit bieten Hilfestellung und vermitteln Ärzte, die den Suizid-Patienten assistieren. Die Argumente für und gegen Sterbehilfe sind hinlänglich bekannt – die kontroverse Diskussion aber wird in Deutschland wohl so schnell nicht enden. Frederik Steiners Sterbedrama „Und morgen Mittag bin ich tot“, das bei den Hofer Filmtagen 2013 seine Weltpremiere feierte, ist weit davon entfernt, der Debatte neue Aspekte hinzuzufügen – das bezweckt Steiner auch gar nicht. Stattdessen schildert der Filmemacher das tragische Schicksal der sterbenskranken Lea, die sich nach Zürich aufmacht, um dort einen tödlichen Cocktail zu schlucken. Steiners bewegendes Kinodebüt, bei dem die Protagonistin fast zwei Stunden lang nach Luft ringt und mit schweren Hustenanfällen zu kämpfen hat, schnürt auch dem Zuschauer die Kehle zu. Der tieftraurige Schlussakkord und die großartige Leistung von Hauptdarstellerin Liv Lisa Fries können dabei allerdings über kleinere Drehbuchschwächen nicht gänzlich hinwegtäuschen.
Die 22-jährige Lea (Liv Lisa Fries) leidet an einer tödlichen Krankheit: Mukoviszidose. Die schwere Stoffwechselerkrankung, die nur durch eine riskante Lungentransplantation geheilt werden könnte, zwingt sie zur Einnahme von Tabletten und zum Tragen eines Sauerstoffgeräts, das per Schlauch mit ihrer Nase verbunden ist und das sie ständig in einem Rucksack bei sich trägt. Ein normales Leben ist Lea unmöglich: Schon wenige Treppenstufen stellen sie vor eine extreme körperliche Herausforderung. Weil ihr ebenfalls an „Muko“ leidender Bruder Benji (Jonathan Berlin) vor Jahren nach einer Lungentransplantation verstarb, lässt die Sterbenskranke die Chance auf eine Operation verstreichen und entschließt sich zu einem mutigen Schritt: Sie reist nach Zürich, um sich einen tödlichen Cocktail verabreichen zu lassen. Vor Ort quartiert sich Lea in der kleinen Pension von Frau Wu (Minh-Khai Phan-Thi) ein und bittet ihre Familie, sie an ihrem letzten Geburtstag vor ihrem Tod zu besuchen. Ihre alleinerziehende Mutter Hannah (Lena Stolze) und Schwester Rita (Sophie Rogall) sind völlig ahnungslos, einzig ihre Oma Maria (Kerstin De Ahna) hat Lea vorab eingeweiht. Während Rita bemerkenswert cool reagiert, ist Leas Entschluss für ihre Mutter ein Schock…
„Wer hat in meinem Alter schon seinen eigenen Fahrdienst?“, stellt Lea zynisch fest, als sie in den ersten Filmminuten im Krankentransport über die Autobahn braust und sich auf ihre letzte Reise in die Schweiz begibt. Doch der erste Eindruck täuscht: Selbstironische One-Liner wie diese bleiben in der Folge die Ausnahme. Anders als im ähnlich gelagerten „Ein Tick anders“, in dem die junge weibliche Protagonistin Eva (Jasna Fritzi Bauer) am Tourette-Syndrom leidet und die Probleme des Alltags mit bemerkenswertem Humor meistert, ist dem Zuschauer in „Und morgen Mittag bin ich tot“ schon bald nicht mehr nach Lachen zumute. Das Schicksal der armen Lea ist zutiefst bedrückend, der Rucksack eine schwere Bürde, und die Frage, ob man Lea nun den Tod oder das Leben wünschen soll, schlichtweg nicht zu beantworten – schließlich kann jeder gesund auf die Welt gekommene Zuschauer nur erahnen, wie viel Kraft die junge Lea jeden Tag aufbringen muss, um ein halbwegs normales Leben führen zu können. Der auch in der Folge sehr pointierte, perfekt dosierte Einsatz von Humor dient lediglich dazu, das zunehmend beklemmende Sterbedrama nicht schon in der Auftaktphase zu sentimental werden zu lassen.
Bei Leas wenigen wirklich glücklichen Momenten im Kreise der Familie verfahren Regisseur Frederik Steiner und Drehbuchautorin Barbara te Kock hingegen genau anders herum: Immer dann, wenn sich „Und morgen Mittag bin ich tot“ zu einem lebensbejahenden Du-schaffst-das-schon-Film zu entwickeln scheint, brechen die Filmemacher die Harmonie brutal auf. So erleidet Lea beispielsweise nachts einen schweren, quälend langen Hustenanfall, nachdem sie mit Mutter Hannah und Schwester Rita nach der stimmungsvollen Geburtstagsfeier im gleichen Bett eingeschlafen ist. Nicht nur hier wächst Liv Lisa Fries („Staudamm“, „Romeos“) in der Rolle der sterbenskranken Patientin über sich hinaus und lässt den Zuschauer bei der schmerzhaften Bronchienattacke körperlich geradezu mitleiden. Dass mit dem Chirurgen Heiner (Johannes Zirner, „Napola“) in Zürich auch eine familienfremde Person mit von der Partie ist, bringt das Drama hingegen weniger stark voran: Der Mediziner wirkt im Kreise der Familie häufig wie ein Fremdkörper, und zwischen Lea und ihm scheint es trotz einiger leidenschaftlicher Küsse nie wirklich zu knistern.
Deutlich besser gelingt den Filmemachern Leas von subtiler Sympathie durchflochtene Begegnung mit dem psychisch kranken Moritz (Max Hegewald, „Scherbenpark“), der seine Mutter im Alter von zehn Jahren mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne fand und seitdem Stimmen in seinem Kopf hört: Sieht hier zunächst alles danach aus, als wäre Moritz nach anfänglicher Abneigung die Person, auf die Lea ihr Leben lang gewartet hat und die die Todgeweihte vielleicht noch umstimmen könnte, ist der gleichaltrige Pensionsgast nach einer gemeinsamen Bootsfahrt auf dem Zürichsee genauso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht ist. Sein Antrag auf aktive Sterbehilfe wurde abgelehnt – und das Schicksal, das er täglich meistern muss, ein ungleich leichteres als das von Lea. So dreht sich bis zur letzten Filmminute alles um die Frage „Tut sie’s oder tut sie’s nicht?“ – und während sie Antwort anfangs leicht scheint, ist die Frage trotz Leas vermeintlicher Selbstsicherheit mit zunehmender Spieldauer immer schwerer zu beantworten. Auf der Zielgeraden zieht Steiner den Entscheidungsprozess dann genüsslich in die Länge und gibt dem Zuschauer ein letztes Mal Gelegenheit, seine Gedanken neu zu sortieren und sich für den zutiefst bewegenden Schlussakkord zu wappnen.
Fazit: Taschentücher nicht vergessen! Frederik Steiners Sterbedrama „Und morgen Mittag bin ich tot“ rührt zu Tränen und entlässt den Zuschauer mit einem Gefühl der Ohnmacht aus dem Kinosaal. Liv Lisa Fries brilliert in der Hauptrolle als sterbenskranke Mukoviszidose-Patientin.