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    Der Letzte der Ungerechten
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Der Letzte der Ungerechten
    Von Michael Meyns

    Unter den vielen Verbrechen des Nationalsozialismus ragt eines besonders hervor: Juden zu Mithelfern und damit quasi auch zu Tätern zu machen. Seien es die Hilfsmannschaften an den Krematorien der Vernichtungslager oder die Hilfstätigkeiten in den Konzentrationslagern: Die Perfidie dieser Zwangssituation ist kaum in Worte zu fassen. Ein besonders bekanntes Beispiel sind die so genannten „Judenältesten“, die in den Ghettos als Bindeglied zwischen Nazis und jüdischer Bevölkerung dienen mussten. 1975 lebte mit Benjamin Murmelstein nur noch einer dieser „Judenältesten“ und gab Claude Lanzmann ein langes Interview, das ursprünglich für dessen Magnum Opus „Shoah“ vorgesehen war. Dort fand das Gespräch jedoch keine Verwendung und so dient es Lanzmann nun als Ausgangspunkt für seinen Film „Der Letzte der Ungerechten“, in dem der Regisseur lange Zeit einen allzu großen Bogen schlägt, bis er in der letzten Stunden zum Kern seines Themas vordringt.

    Seit Jahrzehnten beschäftigt sich der französische Autor, Intellektuelle und Filmemacher Claude Lanzmann mit dem Holocaust. 1985 veröffentlichte er sein Hauptwerk „Shoah“, doch bei der Arbeit an der über neunstündigen Dokumentation war so viel Material entstanden, dass Lanzmann bis heute davon zehren kann. Manche Interviews passten aus zeitlichen Gründen nicht in den Film, andere aus dramaturgischen, andere waren so wichtig, dass sie einen eigenen Film rechtfertigten. So entstanden im Lauf der Jahre die Filme „Ein Lebender geht vorbei“, „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ und „Der Karski Bericht“, denen nun „Der Letzte der Ungerechten“ folgt. Dass dieser 220 Minuten lange Film angesichts von Lanzmanns Alter – am 27. November 2013 wurde er 88 Jahre alt – mit großer Wahrscheinlichkeit der letzte große Film des Regisseurs werden wird, erklärt manche Schwäche des Films, macht ihn aber auch zu einer Art Vermächtnis.

    Das eigentliche Thema ist Benjamin Murmelstein, ein österreichischer Rabbiner, der 1943 nach Theresienstadt deportiert wurde, wo er bis zum Kriegsende als „Judenältester“ agierte. Als solcher hatte er die kaum zu bewältigende Aufgabe, zwischen Nazis und Juden zu vermitteln, den Befehlen der Machthaber Folge zu leisten, aber gleichzeitig auch zu versuchen, möglichst viele Juden zu retten. Zwischen Hammer und Amboss fühlte sich Murmelstein nach eigener Aussage, der manche Schläge abwehren konnte, aber jeden Schlag selbst abbekam.

    Besonders schwierig wurde die Aufgabe dadurch, dass die Nazis das unweit Prag gelegene Theresienstadt zum „Musterghetto“ machen wollten, dass der Welt zeigen sollte, wie gut die Juden doch eigentlich behandelt wurden. Dass hatte einerseits Vorteile für die Bewohner – sie wurden mit mehr Essen und Baumaterialien für ihre Häuser versorgt – machte sie aber auch zum Teil der nationalsozialistischen Propagandamaschinerie. „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ hieß es in der deutschen Presse, ausgerechnet der jüdische Regisseur Kurt Gerron wurde gezwungen, einen passenden verklärenden Dokumentarfilm über das Leben im Ghetto zu drehen.

    Aus diesem Film zeigt Lanzmann ebenso Ausschnitte wie Aufnahmen von Fotos und Bildern, die von Insassen des Ghettos gemalt oder gezeichnet wurden. Vor allem aber stellt er sich selbst in den Mittelpunkt, filmt sich Berichte vorlesend in den Ruinen von zahlreichen historischen Orten, die die Entwicklung des Nationalsozialismus in groben Zügen nachzeichnen. Langsam, sehr langsam fokussiert er diese Erzählung auf den Plan Adolf Eichmanns, in Theresienstadt das „Musterghetto“ zu errichten, was vor allem dazu diente, die Deportation der Juden und den anschließenden Massenmord in den Gaskammern zu kaschieren.

    So zutreffend Lanzmanns Analyse hier auch ist, kann man sich doch des Eindrucks nicht ganz erwehren, dass der Regisseur, der sich Jahrzehnte mit seinem Sujet beschäftigt hat und eine Unmenge an Wissen zusammengetragen hat, keine eindeutige dramaturgische Linie findet. Enorm viele Aspekte werden angerissen bis Lanzmann nach über drei Stunden noch das Interview in den Mittelpunkt stellt, das der eigentliche Anlass seines Films ist. Doch was nun folgt, belohnt das Warten und den ein oder anderen eingeschlagenen Umweg: Benjamin Murmelstein, der 1975 70 Jahre alt war und in Rom im Exil lebte, erweist sich als belesener, reflektierter, mit sich und seinem Leben im Reinen befindlicher Gesprächspartner, der keine Mühe hat, Lanzmann Paroli zu bieten.

    Von der Schwierigkeit seiner Aufgabe berichtet Murmelstein, aber auch von der Abenteuerlust, die ihn als jungen Mann dazu verleitete, sich dieser Aufgabe zu stellen. Von Begegnungen mit Adolf Eichmann ist die Rede, von unmöglichen Entscheidungen, wenn die Nazis Deportationslisten verlangten und Murmelstein entscheiden musste, wer bleiben durfte. All das erzählt Murmelstein ohne Reue, ohne Bitternis, geprägt vom Wissen, dass er aus einer unmöglichen Situation das Beste gemacht hat. Mit dieser Haltung überzeugt er am Ende auch den anfangs von moralischer Empörung geprägten Lanzmann, der wie so viele die „Judenältesten“ als Kollaborateure betrachtete. Allein dieses aufschlussreichen Gesprächs wegen lohnt sich Lanzmanns Film, auch wenn der Vorlauf dahin etwas überlang geraten ist.

    Fazit: Mit „Der Letzte der Ungerechteten“ legt Claude Lanzmann ein interessantes Alterswerk vor, dessen Essenz – ein 1975 geführtes Interview mit Benjamin Murmelstein – faszinierendes Material ist, das viel über die Perfidie des Nationalsozialismus erzählt.

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