Katharina Hagenas Bestseller „Der Geschmack von Apfelkernen“ sollte ursprünglich einmal „Das Buch vom Vergessen“ heißen. Und obwohl der verworfene Titel die Ambition der Autorin gut auf den Punkt bringt, passt die letztlich gewählte sinnlichere Variante besser zu ihrer über drei Generationen hinweg ausgebreiteten Frauen- und Familiengeschichte, in der ein altes Landhaus mit seinem Obstgarten, seinem Geruch und seinen Aromen fast eine genauso große Rolle spielt wie die Menschen, die es bewohnen und besuchen. Für die Produzenten der Verfilmung des Romans bedeutete das eine zusätzliche Herausforderung: Sie mussten nicht nur zum Teil drei Schauspielerinnen verschiedener Altersgruppen für ein- und dieselbe Figur im Laufe der sich über mehr als 60 Jahre spannenden Handlung finden, sondern auch das perfekte Anwesen. Diese Aufgaben lösten sie nahezu perfekt und so liegt es weder am Filmhaus noch an den Darstellerinnen, wenn Vivian Naefes Familiendrama „Der Geschmack von Apfelkernen“ am Ende mehr zu einer (wenn auch gut gemachten) Seifenoper als zu großem Erzählkino mit epischem Atem gerät: Die Themen-, Ereignis- und Figurenfülle des Stoffes lässt den Film immer wieder aus dem dramaturgischen Gleichgewicht geraten.
Nach einem Sturz vom Apfelbaum geht es mit dem Erinnerungsvermögen der über 80-jährigen Bertha Lünschen (Hildegard Schmahl) stetig bergab. Bald erkennt sie nicht einmal mehr ihre Töchter Christa (Oda Thormeyer), Inga (Marie Bäumer) und Harriet (Meret Becker). Als Bertha stirbt, erbt Christas Tochter Iris (Hannah Herzsprung) das Landhaus im norddeutschen Bootshaven, in dem die nun 28-Jährige als Kind und Jugendliche die Ferien verbrachte. Die junge Frau bleibt ein paar Tage an dem idyllisch im Grünen gelegenen Plätzchen und denkt zurück an die Zeit, in der sie (in den Rückblenden: Thalia Neumann) mit Harriets Tochter Rosmarie (Paula Beer) und der Freundin Mira (Zoe Moore) im Garten „Friss oder stirb“ gespielt hat. Aber über dem Ort liegt auch der Schatten einer Tragödie und lange verschüttete Erinnerungen steigen in Iris auf - erst recht als der ehemalige Dorflehrer Carsten Lexow (Matthias Habich) ihr ein Geheimnis anvertraut, das Tante Inga betrifft. Iris überlegt ernsthaft, das Erbe auszuschlagen, doch da ist auch noch ihr ungeklärtes Verhältnis zu Miras Bruder Max (Florian Stetter), den die Mädchen früher nur „Niete“ genannt haben und der jetzt als Notar mit der Abwicklung von Berthas Testament befasst ist. Es kommt zu einem Kuss…
Drei Generationen bewegte Familiengeschichte voller Liebe und Eifersucht, Glück, Enttäuschungen und Geheimnissen wirkungsvoll und trotzdem ausgewogen auf zwei Stunden Kino zu komprimieren, ist an sich schon schwierig genug. Aber hier war es überdies noch wichtig, auch die assoziative Erzählweise von der Vorlage zu übernehmen, um Katharina Hagenas Reflexion über Erinnern und Vergessen gerecht werden zu können. So gibt es auch im Film zahlreiche Zeitsprünge, die oft von Wechseln in der Besetzung begleitet werden, aber trotzdem gelingt es der Regisseurin Vivian Naefe ihrem Film einen natürlichen Erzählfluss zu geben. Mit elegant-unaufdringlichen Übergängen zwischen den einzelnen Ebenen und einigen wohlgesetzten symbolischen Akzenten (am schönsten ist das Bild von den sich verwandelnden Johannisbeeren) hat die Inszenierung in ihren besten Momenten fast etwas Poetisches. Diesen stehen allerdings auch sehr bemüht wirkende Passagen gegenüber, etwa wenn der Zuschauer nicht erkennen soll, ob es die junge Bertha (Saskia Rosendahl) oder ihre Schwester Anna (Sarah Horvárth) ist, die den Lehrer Lexow (Max von Pufendorf) zu einer Liebesnacht unter dem Apfelbaum verführt. Auch die großen Eifersuchts- und Spannungsmomente gewinnen durch ihre arg konventionelle Zuspitzung (Gewitter!) nicht gerade an Intensität, aber sie leiden noch viel deutlicher an der fehlenden erzählerischen Tiefe.
Trotz der recht anspruchsvollen Struktur behält der Betrachter auch ohne Kenntnis des Romans leicht den Überblick über das Geschehen, vor allem weil die Mehrfachbesetzungen stimmig sind. Besonders Thalia Neumann („Fack ju Göthe“) und Hannah Herzsprung („Hell“, „Vier Minuten“) als jugendliche und erwachsene Iris erschaffen gemeinsam eine bis in kleine Gesten und Ticks schlüssige Figur. Die zaudernde Hauserbin navigiert den Zuschauer gewissermaßen durch ihre bewegte Familiengeschichte, mit ihr gemeinsam werden wir mit den Phantomen der Vergangenheit konfrontiert, von denen Iris‘ seltsam unterkühlte Gegenwartsromanze mit dem linkischen Max hier nur ablenkt. Da gibt es einiges zu entdecken: verstoßene Töchter, verborgene Vaterschaften, heimliche Liebschaften, die Andeutung einer Naziverstrickung, Verzweiflung, Verbitterung und Tod. In dramatischen Szenen mit Knalleffekt werden Geheimnisse enthüllt – für Komplexität bleibt bei dieser Höhepunkt-Dramaturgie trotz guter Schauspielleistungen (herauszuheben ist vor allem Paula Beer als Rosmarie) kaum Platz. Ein Thema wie etwa die Liebe zwischen Mädchen, dessen feinfühlige Darstellung Naefes „Die wilden Hühner und die Liebe“ so auszeichnete, kommt hier überhaupt nicht ernsthaft zur Entfaltung. Nur ganz selten wird eine Situation in ihrer ganzen Intensität ausgespielt wie in der Szene, in der Harriet ihren Ex-Geliebten Friedrich Quast (Johann von Bülow) aufsucht, um ihm herzzerreißende Neuigkeiten zu überbringen.
Fazit: „Der Geschmack von Apfelkernen“ ist eine in einzelnen Rollen hervorragend gespielte Romanverfilmung mit perfekt gewählten Schauplätzen, die aber durch inhaltliche Überfrachtung weitgehend oberflächlich bleibt.