Die Coughlin-Trilogie von Bestseller-Autor Dennis Lehane gehört zu den besten Romanreihen, die in den vergangenen zehn Jahren veröffentlicht wurden. Ben Affleck, der mit „Gone Baby Gone“ bereits ein anderes Werk des Autors adaptierte, nahm sich nun für „Live By Night“ den zweiten der drei Bände vor – eine nachvollziehbare Wahl. Denn die in Deutschland unter dem Titel „In der Nacht“ veröffentlichte, komplexe Mafiageschichte übertrifft das die Reihe eröffnende Polizei-Historiendrama „Im Aufruhr jener Tage“ und den düsteren Abgesang „Am Ende einer Welt“ nicht nur an Spannung und Dichte, sondern bietet alles, was man für großartiges Gangsterkino benötigt: ein faszinierendes Setting, starke Konflikte, mitreißende Action und vielschichtige Figuren. Doch Affleck, der nicht nur Regie führte und das Drehbuch schrieb, sondern auch noch die Hauptrolle von dem ursprünglich vorgesehenen Leonardo DiCaprio erbte, verhebt sich mit dem Projekt etwas. Obwohl er die Vorlage teilweise stark kürzt, erstarrt er zu oft in Ehrfurcht vor ihr. Das Ergebnis ist ein Werk mit viel Licht, aber genauso viel Schatten, bei dem der Regisseur Affleck ausgerechnet bei der Inszenierung des Hauptdarstellers Affleck Fehler macht.
Boston, zur Zeit der Prohibition: Joe Coughlin (Ben Affleck) sieht sich nicht als Gangster, sondern als Outlaw. Der Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg macht mit zwei Kumpels sein eigenes Ding und überfällt zum Beispiel illegale Hinterzimmer-Glücksspiele. Doch seine große Liebe zu der unwiderstehlichen Emma Gould (Sienna Miller) führt zum Absturz. Die ist nämlich eigentlich mit Gangsterboss Albert White (Robert Glenister) liiert. Als dieser von der Affäre erfährt und auch noch einer von Joes Überfällen schiefgeht, kann der Gesetzlose froh sein, dass ihm sein Vater (Brendan Gleeson), ein hochrangiger Polizist beispringt, und er nur für ein paar Jahre im Gefängnis landet. Wieder in Freiheit schwört er White Rache und lässt sich daher mit dem Mafia-Boss Maso Pescatore (Remo Girone) ein. Für diesen soll er die Einfuhr des illegalen Rums aus Kuba nach Florida überwachen. Mit Geschick wird Joe schnell zum größten Boss in Tampa Bay und bringt der italienischen Mafia Millionen ein. In der Kubanerin Graciela (Zoe Saldana) findet er zudem eine neue Liebe. Sie prophezeit ihm, dass nur grausame Männer lange an der Spitze bleiben können, doch in seinem Herzen ist Joe weiter ein freiheitsliebender Outlaw und kein brutaler Gangster…
Die auf den ersten Blick vielleicht etwas befremdlich wirkende Unterscheidung zwischen Outlaw und Gangster ist ein zentrales Element von „Live By Night“, die schon im einleitenden Voice-Over zur Sprache kommt und auf die mehrfach auch in Dialogen eingegangen wird. Sie hilft dem Publikum, Joe als Sympathieträger wahrzunehmen, aber vor allem rechtfertigt er sein oft fragwürdiges Tun damit vor sich selbst: Er mordet zwar, doch er tötet nur Menschen, die noch schlimmer sind als er – „richtige“ Gangster also oder die Rassisten vom Ku-Klux-Klan. Als er sich weigert, eine unschuldige Person umzubringen, ist dies der Anfang vom Ende. Der innere Konflikt des um Rechtschaffenheit bemühten Gesetzesbrechers bleibt in Afflecks Film allerdings weitgehend Behauptung und findet kaum einmal nachfühlbaren Ausdruck. Der Autor und Regisseur Affleck greift meist auf wortreiche Erklärungen zurück, um das Innenleben der Figur zu offenbaren, er scheint dem Schauspieler Affleck keine anderen Mittel zuzutrauen. So bleibt sein Coughlin unnahbar und wirkt zuweilen geradezu abweisend. Die einschüchternde körperliche Präsenz, die sich Affleck für seinen Part als Dunkler Ritter antrainiert hat - „Live By Night“ drehte er genau zwischen „Batman V Superman“ und „Justice League“ -, passt überdies auch nicht recht zu der hier vorgestellten Figur des gewitzten Romantikers.
Welch starke Wirkung ein bloßer Gesichtsausdruck dagegen entfalten kann, wenn man auf die Ausdruckskraft des Mienenspiels vertraut, zeigt eine Szene, in der Affleck mit Elle Fanning in einem Restaurant sitzt und der Schauspielkollegin die Bühne überlässt: Der „Neon Demon“-Star holt aus dem Moment mehr Emotionen heraus als ihr Partner während des ganzen Films. Als Loretta Figgis, die nach einem Drogen-Martyrium zur wie eine Heilige verehrten Predigerin gegen alle Laster und so zur zeitweisen Gegenspielerin von Coughlin wird, hat sie auch die fesselndste Nebenstory. Darsteller wie Brendan Gleeson („The Guard“) oder Chris Cooper („Adaption.“) können zwar punktuell auch brillieren, aber ihre Figuren sind allzu stark auf ihre erzählerische Funktion reduziert: Hier dreht sich fast alles um Joe Coughlin. So wird auch Zoe Saldana („Avatar“) trotz einer vielschichtigen Rolle von Affleck im Wortsinne in den Schatten gestellt, während der aus der Comedy-Serie „The Mindy Project“ bekannte Chris Messina als Coughlins Partner-in-Crime Dion Bartolo zur großen Überraschung wird – weil er den nötigen Entfaltungsspielraum bekommt.
Auch die Bildgestaltung vom dreifachen Oscargewinner Robert Richardson („JFK“, „Aviator“) fällt uneinheitlich aus: Starke Panoramaansichten wechseln sich hier mit unübersichtlicher Wackelkamera ab. Die Unausgeglichenheit kulminiert im explosiven Finale, bei dem der nach „Gone Baby Gone“, „The Town“ und „Argo“ als exzellenter Regisseur etablierte Affleck und sein Team einerseits die Brutalität der Maschinengewehr-Schießereien in Nahdistanz spürbar werden lassen, man aber andererseits über weite Teile nicht erkennen kann, wer auf Joes Seite kämpft und wer gegen ihn ist. Die Uneinheitlichkeit der Inszenierung schlägt sogar bis auf das Format durch. Eigentlich wollte Richardson die Linsen nutzen, die er bereits für Quentin Tarantinos „The Hateful 8“ eingesetzt hatte, die waren aber schon an die Macher von „Rogue One: A Star Wars Story“ vergeben. Afflecks Kameramann drehte daher ausnahmsweise digital und versuchte in der Post-Produktion einen klassischen analogen Look zu imitieren. Das beißt sich bisweilen mit der kristallenen, etwas sterilen Klarheit der Digital-Bilder, das nur selten genutzte, eindrucksvolle und viel Fläche bietende 70mm-Format wird dabei allerdings meist gut zur Geltung gebracht.
„Live By Night“ schwankt durchweg zwischen den Extremen. Bisweilen meisterhaft, immer wieder aber auch ganz schwach. Dies liegt unter anderem daran, dass Affleck die erstklassige Vorlage erkennbar verehrt, deshalb aber womöglich zu viel Respekt vor ihr hatte. Viele Handlungsstränge hat er gekürzt und verändert, aber für die Zwecke eines zweistündigen Kinofilms hätte er dabei noch radikaler vorgehen müssen. Denn am Ende übernimmt er doch fast das komplette Figurenkabinett aus Lehanes Roman. So macht Joe Coughlin immer wieder neue Bekanntschaften und muss in der Folge mit neuen Problemen fertig werden. Dadurch bekommt „Live By Night“ etwas Episodenhaftes, weswegen sich die Frage aufdrängt, warum man nicht gleich den Weg einer Mini-Serie gegangen ist: Es gibt starke Action, es gibt großes Drama und es gibt Witz. Und natürlich darf auch typische Gangster-Coolness nicht fehlen, wenn Coughlin zum Beispiel eine „Verhandlung“ mit einem von Anthony Michael Hall („The Breakfast Club“) gespielten Ku-Klux-Klan-Mann nach dessen Hinweis auf die mächtigen Personen in seinem Rücken vorzeitig „beendet“. Aber am Ende bleiben das alles nur isolierte Einzelmomente, es fehlt das Fleisch zwischen den erzählerischen Rippen.
Fazit: Als Mini-Serie hätte „Live By Night“ das Zeug zum Meisterwerk gehabt, als Kinofilm ist Ben Afflecks Gangster-Action-Drama letztlich nur mittelmäßig.