Schon im düsteren Prolog in eisiger Winterlandschaft stellt Regisseur Tomas Alfredson die erzählerischen Weichen unbarmherzig in Richtung Trauma und Gewalt, Verzweiflung und Verbrechen. Nach dem folgenden Zeitsprung skizziert er dann in Oslo eine neue beunruhigende Konstellation und vertieft das Leitmotiv der dysfunktionalen Familie. In diesem Moment ist die Hoffnung auf einen deftigen Thriller-Leckerbissen nach skandinavischer Art groß, zumal in „Schneemann“ mit dem Kriminalpolizisten Harry Hole die wohl populärste Figur des norwegischen Erfolgsautors Jo Nesbø ihr Leinwanddebüt gibt. Doch nach der zu Beginn zu sehenden Sofia Helin, der fabelhaften Hauptdarstellerin aus der schwedisch-dänischen Krimiserie „Die Brücke – Transit in den Tod“, die rasch aus dem Film verschwindet, folgen weitere enttäuschend knappe Auftritte toller Schauspieler wie Chloë Sevigny („Boys Don’t Cry“) und Toby Jones („Harry Potter und die Kammer des Schreckens“), die Handlung franst zeitlich und geografisch immer mehr aus und mittendrin steckt Michael Fassbender („Steve Jobs“, „X-Men: Apocalypse“), der als Harry Hole zumindest für die Nicht-Leser der Romane weitgehend eine Leerstelle bleibt. Was den Protagonisten angeht, ist es ein klarer Nachteil, als erstes das bereits siebte Buch der Reihe zu verfilmen. Und so ist „Schneemann“ am Ende nur ein mittelmäßiger Serienkiller-Thriller mit jeder Menge verschenktem Potential.
Harry Hole (Michael Fassbender) ist ein brillanter Mordermittler bei der Osloer Polizei, aber er hat ein Alkoholproblem. Nach seiner letzten Sauftour ist er gleich eine ganze Woche nicht im Büro erschienen. Auch im Privatleben läuft es nicht gut für den Krisen-Cop, seine Freundin Rakel Fauske (Charlotte Gainsbourg) hat ihn verlassen und ist jetzt mit dem Schönheitschirurgen Mathias Lund-Helgesen (Jonas Karlsson) zusammen. Harry bleibt nur die Arbeit: Als er mit seiner neuen Kollegin Katrine Bratt (Rebecca Ferguson) einige Vermisstenfälle untersucht, entdecken sie beunruhigende Übereinstimmungen. Die Spuren führen zu einem Serientäter, der als Markenzeichen einen Schneemann am Tatort hinterlässt. Bald geraten der zwielichtige Arzt Idar Vetlesen (David Dencik) und der reiche Unternehmer Arve Støp (J.K. Simmons), der die Winterspiele nach Oslo holen will, in den Fokus der Ermittler…
Ursprünglich sollte Regielegende Martin Scorsese „Schneemann“ inszenieren. Der Oscarpreisträger hat den Job dann aber Tomas Alfredson überlassen und blieb dem Projekt als Executive Producer verbunden. Der schwedische Regisseur von „So finster die Nacht“ und „Dame, König, As, Spion“ schien eine perfekte Wahl für den Stoff zu sein, hatte er sich doch bereits bei der Erkundung eisiger Stimmungen, tödlicher Geheimnisse und finsterer Abgründe hervorgetan. Tatsächlich blitzen die atmosphärischen Stärken des Blutsauger-Coming-of-Age-Dramas und der John-le-Carré-Verfilmung auch in dieser Adaption auf. Die in Eis und Schnee gehüllte Natur Norwegens und die Sehenswürdigkeiten von Oslo und Bergen bieten vermeintlich idyllische Kulissen für mehrere dramatische Höhepunkte, am anderen Ende des Spektrums stehen Harrys von Schädlingen zerfressene Wohnung und vermoderte Hütten irgendwo im Nichts. Doch die reizvolle Oberfläche (Kamera: Dion Beebe, „Collateral“) bleibt anders als etwa in David Finchers ähnlich schickem „Verblendung“ wirklich fast nur Oberfläche. So deuten etwa David Dencik („Top Of The Lake China Girl“) als irritierender Frauenarzt, der sich die Fußnägel lackiert, und J.K. Simmons (Oscar für „Whiplash“) als ungefragt Frauen fotografierender Wirtschaftsmagnat durchaus an, was sie aus diesen Figuren hätten machen können, aber bekommen nicht die Gelegenheit dazu.
Die Geschichte steckt voller abwesender oder versagender Väter, aber weder ergibt sich daraus eine Gesellschaftsmetapher noch ein tiefergehendes persönliches Drama. Die Krimispannung ist wichtiger als die Figurenzeichnung und so bleiben viele Handlungsgründe und Motivationen allzu lange ein Geheimnis. Erst wenn diese am Ende allmählich ans Licht kommen, dann lassen sich bei vielen Figuren auch die emotionalen Verwerfungen erahnen (vor allem bei der von der engagierten Rebecca Ferguson verkörperten Katrine). Der Protagonist dagegen bleibt undurchschaubar - und das leider nicht auf spannend-mysteriöse Weise: Für einen vermeintlichen Säufer am Rande der Verwahrlosung ist Michael Fassbender nicht nur viel zu gut in Form, er zeigt auch kaum einmal sichtbare Spuren von Verzweiflung, Sorge oder Schwermut - außer man akzeptiert einen immer noch sehr ansehnlichen Fünf-Tage-Bart als Zeichen des Verfalls. Fassbender geistert fast ausdruckslos durch den Film, bleibt reine Projektionsfläche. Ganz anders Val Kilmer („The Doors“, „Heat“), der in einigen Rückblenden zu einem alten Fall in Bergen ebenfalls einen heruntergekommenen Polizisten spielt. Er ist gleichsam das lebendige Spiegelbild Harrys: In jede Pore seines grotesk aufgedunsenen Gesicht haben sich Schmerz und die Sehnsucht nach Vergessen eingegraben. Und in seinen trotzig-traurigen Augen ist genau die Leidenschaft zu erkennen, die diesem kühl kalkulierten Film sonst fehlt.
Fazit: Tomas Alfredsons Jo-Nesbø-Verfilmung „Schneemann“ hat nicht nur alle typischen Elemente eines eiskalten nordischen Thrillers zu bieten, sondern auch ein erstklassiges Team vor und hinter der Kamera. Herausgekommen ist aber nur hübsch anzuschauendes Hochglanzkino, dessen optische Reize und verschnörkelte Erzählweise nicht darüber hinwegtäuschen können, dass „Schneemann“ letztlich nicht mehr ist als ein formelhaft-durchkalkulierter Reißer mit einer fehlbesetzten Hauptfigur.