Bis ins Mittelalter galt das westliche Europa als der Erdteil, der der Abendsonne am nächsten liegt. In der Romantik wurde schließlich der Begriff des Abendlandes geprägt, das man in unseren Breitengraden nicht erst seit Oswald Spengler permanent als dem Untergang geweiht betrachtet. Europa sieht sich gern als Insel der Vernunft in einer verrückt gewordenen Welt. Während anderswo Kriege toben und Hungersnöte herrschen, bilden sich die Europäer noch viel auf ihre scheinbar sicheren Verhältnisse und ihre traditionsreiche Kulturgeschichte ein. Doch auch hier steht die Ordnung auf tönernen Füßen, wie die aktuelle Währungskrise einmal mehr unterstreicht. Der Gedanke einer europäischen Einheit wird mehr und mehr in Frage gestellt. Nikolaus Geyrhalter, der sich mit „Unser täglich Brot" und „7915 km" bereits als spannender Vertreter der jungen österreichischen Dokumentarschule empfohlen hat, wagt mit „Abendland" einen Spaziergang durch Europa bei Nacht. Was er dabei suchte und was er zu finden hoffte, bleibt unklar. Das tut der Faszination, die von seinem Werk ausgeht, jedoch keinen Abbruch.
Vordergründig ist kein erzählerisches Muster auszumachen, in dem die einzelnen Ausschnitte angeordnet sind. Geyrhalter folgt vielmehr seinem Bauchgefühl statt eines klaren roten Fadens. Es obliegt dem Zuschauer, Ordnung in den Wust an Eindrücken und Anekdoten zu bringen und Querverbindungen zu ziehen. Was hat die nächtliche Fließbandarbeit im englischen Postamt mit dem Lustbetrieb in einem tschechischen Bordell zu tun? Was verbindet die elektronische Sause auf der „Mayday" mit dem Polizeiaufgebot auf den Gleisen nach Gorleben? Das einzige, was wirklich ins Auge springt, ist Geyrhalters Fokus auf Polizeikräfte und Grenzschützer: Wenn es dunkel wird, beugt sich auch Europa seiner Angst und macht mobil...
Während die Polizei die aufglimmende Unzufriedenheit der Bürger unter Kontrolle zu bringen versucht, wird an den Grenzen mithilfe von Nachtsichtkameras dafür gesorgt, dass niemand aus der Dritten Welt in diese scheinbare Idylle hineindringt. Bei einem Abstecher nach England, wo Orwell'sche „Big Brother"-Dystopien längst zum Alltag gehören, verdichtet sich der Eindruck, dass sich Europa bei seinem Streben nach Sicherheit immer mehr in einem eigenen Gefängnis nach Foucault'schem Ideal einmauert. Vielleicht geht es ja doch um den kulturellen Verfall des Abendlandes oder das institutionalisierte Leben oder das Sterben der Industrienationen? Aber Geyrhalter wird nie konkret und verschließt sich jeder deutlichen Interpretation. Er gibt nicht nur keine Antworten, er stellt noch nicht einmal Fragen. Stattdessen wirft er kurze, präzise Blicke auf das nächtliche Treiben.
Diese Herangehensweise ist mitunter eher die eines Künstlers als die eines Dokumentaristen und oft wirkt „Abendland" wie ein experimentelles Dokumentar-Gedicht. Geyrhalter fasst sich in den einzelnen Episoden kurz und zeigt kein Interesse daran, diese in einen größeren Kontext zu stellen. Stattdessen öffnet er immer wieder Fenster zu neuen thematischen Feldern, die der Zuschauer dann aber bitteschön selber zu erkunden und zu beackern hat. Wer die einzelnen Stippvisiten quer durch Europa auf eine tiefere Bedeutung abklopft, wird sicher fündig werden: Der Abstecher zum Oktoberfest, der in ein paar wenigen Einstellungen den spießigen Mief im Partyzelt, die logistischen Anstrengungen im Hintergrund und die deutsche Bräsigkeit samt Schunkelmusik bebildert, lässt sich zum Beispiel auch als Satire verstehen.
Die Oktoberfest-Sequenz beginnt mit rotierenden Brathähnchen, die am Spieß vor sich hinschmoren. Darauf folgt eine lange Kamerafahrt durchs Getümmel. Wiederholt springt der Film zwischen den ausgelassenen Festivitäten und der von Gastarbeiter in freudloser Routine verrichteten Arbeit in der Küche hin und her, als würde die Freude der Feiernden nur aufgrund der eklatanten Wohlstandunterschiede zu den Mindestlohnschuftern hinter den Kulissen möglich. Geyrhalters Kamera trifft dabei meist den richtigen Winkel und findet die richtigen Ausschnitte: „Abendland", sieht einfach fantastisch aus und erinnert beizeiten an die konzentriert-unterkühlte Bildsprache, die schon Volker Sattels Atom-Doku „Unter Kontrolle" zu einem Highlight des deutschsprachigen Dokumentarfilms 2011 machte. „Abendland" spielt eindeutig in derselben Liga.
Fazit: „Abendland" ist ein hypnotisches, visuell verspieltes und rätselhaftes Filmerlebnis, das sich kein Freund des etwas anderen Dokumentarfilms entgehen lassen sollte.